CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Allgemeine Diskussionen zur Pilgerei und ihrer Geschichte
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Frau Holle
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Frau Holle »

WoM hat geschrieben: 16. Dez 2021, 21:51 Demnächst plane ich den portugues - das wäre also vor 20 Jahren schwierig gewesen?

Grüßle Wolfgang
Ganz bestimmt.
Der Weg ist erst seit 1999 vernünftig beschildert und 2004 wurde in Rates die erste Pilgerherberge eröffnet. Also kein Vergleich zu heute.
Camineiro hat geschrieben: 15. Dez 2021, 09:50
Frau Holle hat geschrieben: 15. Dez 2021, 08:31
WoM hat geschrieben: 14. Dez 2021, 13:11 Nur der Film von Hape war negativ überzogen. Bisher hatte ich nur ordentliche Herbergen. Aber klar, einen Hype hat er ausgelöst, aber zum Glück kaum mit übertriebenen Erwartungen.
Das stimmt so nicht ganz.
Hape ist 2001, also vor 20 Jahren gepilgert, da war es noch eine ganz andere Welt. Mit dem Hype kam natürlich auch Infrastruktur, es kamen bessere Herbergen und alles. Man kann den heutigen Weg nicht mit dem von 2001 vergleichen.

Hape hat bestimmt an einigen Stellen übertrieben, damit es sich spannender und lustiger liest, aber es war damals noch ganz anders auf dem Camino.
Als er gepilgert ist gab es bspw noch keine einzige Herberge auf dem Portugues. Die wurde erst 3 Jahre später eröffnet.

WoM schrieb vom Film, nicht vom Buch.
Beides sollte man nach meiner Meinung getrennt betrachten.

Während das Buch aus Hapes Feder stammt, wurde der Film in Anlehnung ans Buch mit starken Abweichungen gedreht.
Hape war mWn am Film nur beratend beteiligt.

Dass der Weg sich verändert ist ohne Zweifel.

Den Cf bin ich 2008 und 6 Jahre später (2014) nochmal gepilgert.
Das waren zwei unterschiedliche Wege, obwohl es (mit geringen Abweichungen) dieselbe Strecke war.
Oh stimmt, das mit dem Film habe ich übersehen. Wobei Buch und Film ein anderes Bild vermitteln als es in Wahrheit ist.
Ich weiß nicht ob es Pilger gibt, die erst den Film gesehen haben und dann über die Pyrenäen sind. Die dürften sich gewundert haben warum sie nie über die Baumgrenze kamen, wo Hape es doch offenbar war 😅
Aber der Film sollte ja evtl auch ein bisschen den Eindruck von 2001 vermitteln. Aber gut, der Film ist auch einfach grundsätzlich nicht gut
u l t r e i a
wiesicla
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von wiesicla »

Ich war das erste Mal 1996 auf dem Camino. Es war in der Tat ganz anders als heute. Ich bin durch viele Dörfer gekommen, die kurz vor dem Aussterben waren. Fliegende Händler, die die alten Bewohner versorgt haben. Ein "Supermarkt" im Hinterzimmer eines Anwohners. Im Ort gab es in der Regel nur eine Herberge, die die Anwohner dem zunehmendem pilgerstrom zur Verfügung gestellt haben. Damit die Pilger ein Dach über dem Kopf haben. Mit einem ehrenamtlichen Hospitalero., häufig durch eine örtliche Jokonusgesellschaft getragen. Nicht durch die tourismusbehörde. Außer in Galicien. Da stellte der Staat die ehemaligen Schulen zur Verfügung.
In ein Hostal zu gehen war ungewöhnlich. Das passte nicht zu Pilgern. Buchen vorab war abwegig, man lief frei bis dahin, wo einen die Füße trugen oder wo man entschied zu bleiben. Wir hatten die Einfachheit gewählt, die Gemeinschaft mit den andern, mit allen Stärken und Schwächen. Man hat das ausgehalten, wenn wir verschieden waren. Ich wurde als Pilger in reich beschenkt durch die Gastfreundschaft. Als Hospitalera wollte ich das ein paar Jahre später wieder zurückgeben, nur um zu merken, dass ich auch da so reich beschenkt wurde durch die Pilger.
Wir waren eine kleine Familie, vielleicht 20 - 30 Personen, die wir parallel liefen. Wir haben häufig zusammen gekocht.
Niemand kam wie heute auf die Idee, nur einen Teil des Wegs zu laufen. Alle wollten in Santiago ankommen, das war das Ziel. Aus der Zeit gefallen in fünf Wochen, wozu du nur ins Auto steigen musst und in einem Tag bist du da. Ein paar verrückte, dickköpfige Spinner🙂
Ich bin nur in Spanien gelaufen. Ein mitpilger war durch Frankreich gelaufen und sagte mir, das, sei nichts für Frauen. Er sei in den Städten zu Pfarreien oder Rathäusern gegangen, um nach einer Unterkunft zu fragen, und die hätten ihn ins Obdachlosenheim geschickt. Das Netz der Jakobusfreunde in frankreich war wirklich sehr dünn, damals nur ein bisschen auf der Via podiensis verbreitet.

Als ich 2001 die via de la plata lief, gab es nur ganz ungenaue Führer. Ich habe mich hoffnungslos verlaufen. Der Weg war nicht so gut beschildert. In den 4 Wochen bis astorga traf ich nur viermal andere Pilger. Übernachtet habe ich dort, wo mir die Gastfreundschaft der Anwohner etwas zur Verfügung stellte. Auf einem Sportplatz, in einem Theater, im Flur des Rathauses, in einer Garage. Ich musste den Schlüssel suchen und die Herberge selbst instand setzen. Sie waren in der Regel nicht betreut. Fuenterroble de Salvarierra war wie ein Paradies🙂 hostales lehnte ich ab. Die via de la plata war aber schon durch den Staat betrieben. Die wenigsten Unterkünfte wurden durch jakobusgesellschaften betrieben, sondern von den Rathäusern ging es aus.

Demgegenüber hat sich schon sehr viel verändert. Die Dörfer, vor ein paar Jahren noch am Aussterben haben schon 2000 wieder ein bis zwei junge Familien getragen. Ein, zwei Herbergen, ein Bar, ein Supermarkt. 2003 war ich letztmals auf dem Camino frances und nach der einsamen plata kam es mir wie ein kulturschock vor. Es gab Busigrinos und Taxigrinos, die die -günstigen Herbergen nur ausnutzen. Die Bundesländer erkannten das Potential des pilgerstrom und förderten die Infrastruktur am und auf dem Weg.
Dann bin ich zwischen 2015 und 2020 von zuhause aus gelaufen. Viele wanderer, die nur die schönen Teile liefen. Viele ohne das Ziel, jemals anzukommen. Die Ortseingänge mit dem hässlichen Industriegebieten mit dem Bus übersprangen. Die Herbergen nach den Bewertungen der Führer aussuchen. Vorbuchen als Regel. Bettenrennen, weil im August auf dem Norte mehr Pilger unterwegs waren als Betten vorhanden. Die hospitaleros als Dienstleister betrachteten. Hospitaleros auf der anderen Seite, die das als ihren Beruf hatten, davon lebten. Überall ist der Camino nun staatlich gefördert und man liest offen, welchen Reichtum der Wandertourismus den Struktur Schwächen regionen Frankreichs uns Spaniens bringt.
Was nicht heißt, dass es den Pilgergeist nicht mehr gibt. Hospitaleros aus Passion. Tiefe freundschaften, in denen man den Wanderpartner am tiefpunkt erlebt und herausträgt. Unglaublich gastfreundliche Menschen am weg, die einem ihr Herz ausschütten.
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Michael Heininger
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Michael Heininger »

Danke, wiesicla!
Wo ein Weg ist, da ist auch ein Wille.
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Gertrudis
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Gertrudis »

Danke, wiesicla. Genau so war das.
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Simsim
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Simsim »

Ja, Dank auch von mir. Habe selbst nur noch die allerletzten
Überbleibsel dieser Zeit miterlebt (auf meinem ersten Camino 2009), aber immerhin noch eine Ahnung davon bekommen.
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Matt Merchant
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Matt Merchant »

Irgendwie stelle ich mir vor dem geistigen Auge einen alten, zauseligen Kelten in Fellkleidung vor, wie er grimmig neben einem Wegkreuz hockt,
die PilgerInnen mit ihren bunten Rucksäcken anschaut und sinniert:
"Die machen ja auch alles an unserem schönen alten Camino kaputt mit diesem neumodernen Christentum"...

Der große Uderzo möge mir erneut verzeihen:

Bild
"Das Unscharfe um das Display herum, das ist der Camino.“ (frei nach M. M. Profitlich) :geek:
wiesicla
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von wiesicla »

Lieber Matt,

Auch ich bin in funktionskleidung und mit buntem Rucksack unterwegs.
Das Problem liegt in der Einstellung der Pilger bzw. Wanderer einerseits, wie oben beschrieben.
Andererseits kann sich dem auch niemand entziehen : auch 1996 habe ich schon mit dazu beigetragen, den Weg zu verändern, denn das Feld, das ich mitbrachte ermöglichte die Ansiedlung von barbesitzern und Herbergen. Diese Entwicklung war für die Regionen ein Segen. Ich möchte diese Entwicklung auch nicht bewerten. Sie passiert halt.
Das Kapern durch die tourismusministerien ist für mich aber eine fatale Entwicklung. Sie macht aus einer auf non-profit basierten Bewegung ein finanzielles Rückgrat zur Entwicklung strukturschwacher Regionen. Ich fühle mich da missbraucht.
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Matt Merchant
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Matt Merchant »

wiesicla hat geschrieben: 18. Dez 2021, 20:12 Andererseits kann sich dem auch niemand entziehen : auch 1996 habe ich schon mit dazu beigetragen, den Weg zu verändern, denn das Feld, das ich mitbrachte ermöglichte die Ansiedlung von barbesitzern und Herbergen. Diese Entwicklung war für die Regionen ein Segen. Ich möchte diese Entwicklung auch nicht bewerten. Sie passiert halt.
Das Kapern durch die tourismusministerien ist für mich aber eine fatale Entwicklung. Sie macht aus einer auf non-profit basierten Bewegung ein finanzielles Rückgrat zur Entwicklung strukturschwacher Regionen. Ich fühle mich da missbraucht.
Liebe Wiesicla,

Du bringst es wunderbar und gedanklich anregend auf den Punkt. Danke für Deine Impulse.
Mir geht es ja ähnlich: Auch ich bin in bunter Funktionskleidung unterwegs, habe manch frechen Cola-Automaten am Wegesrand freudig begrüßt, schnelle Rückflüge gefeiert und sogar ein, zwei Kingsize-Betten genutznießt...
Ich bin unterm Strich ein absolut gewöhnlicher Tourigrino...

Mich interessieren kulturelle Paradoxien...
Und unser Wunsch nach authentischem Pilger-Feeling bricht sich auf spannende Weise damit, dass wir eigentlich immer nur die Annehmlichkeiten des Retro-Feelings wollen. Wie in Mittelalter-Filmen und -Serien: Strahlende Ritter, wackere Bauersleute und hübsche Burgfräuleins wollen wir sehen, aber nicht die wahren unhygienischen Bedingungen der damaligen Zeit.

Vor zwei Wochen durfte ich ein Seminar über die beliebte Erg-Chebbi-Sandwüste in Marokko erleben. Und der Moderator raubte uns genüsslich die Illusionen, die mit diesem Selbstfindungs-Ort verbunden sind. Im Grunde handelt es sich um ein großes Open-Air-Theater mit falschen Karawanen und Statisterie-Nomaden, da man dem zahlenden Touristen genau das liefert, was er erwartet und dort sehen will. Dass Afrikanische Wüste eigentlich ganz anders aussieht, interessiert niemanden, der dort hinfährt.
Wir wollen stets das Gewohnte, aber anders....

Nicht zuletzt; Mich interessiert auch die Paradoxie, dass Kultur notwendigerweise immer Fortschritt und Bewegung braucht. Sonst wird sie zu Ideologie. Unser Weg MUSS sich also verändern und mit der Zeit gehen. Sonst wird er reaktionär.
Zugleich muss er aber auch sein Gesicht und seine Geschichte wahren und sich treu bleiben, sonst geht er vor die Hunde...
Ein Dilemma at its best.

Grübelnde Grüße
von Matthias
"Das Unscharfe um das Display herum, das ist der Camino.“ (frei nach M. M. Profitlich) :geek:
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chrisbee
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von chrisbee »

Vielleicht ist Pilgern die Urform des Tourismus.
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caminoxyz
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von caminoxyz »

Es gibt immer noch Nebenwege, auch in Spanien, mit weniger Infrastruktur. Wenn einem die Ballermannisierung nicht gefällt, kann mensch immer noch auf solche Wege ausweichen.
Und die Deutschenquote ist in der Regel auf den Wegen besonders gering, für die es keinen Pilgerführer vom Conrad-Stein Verlag gibt. 😉
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chrisbee
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von chrisbee »

Hallo wiesicla,

deine Beschreibung von früher finde ich sehr anregend. Du schreibst allerdings auch, dich als Pilger missbraucht zu fühlen, und zwar durch die Tourismusministerien.

Dazu möchte ich etwas anmerken. Denn mir scheint eher, dass in der ganzen Historie dieses Weges selten so wenig Missbrauch mit Pilgern betrieben wurde wie heute. Angefangen bei der Geschichte der „Entdeckung“ des Apostelgrabes, in der es, soweit ich weiß, auch um kircheninterne Machtkämpfe und ein Gegengewicht zur Stellung Roms ging und dafür Pilger gebraucht wurden. Daran waren clevere Strategen beteiligt. Genauso wichtig waren Pilger zu Zeiten der Reconquista. Da wurde sogar der Heilige selbst zum Maurenschlächter hochstilisiert. Und so gesehen waren Pilger immer auch Mittel zum Zweck, eine Art Herde von Schäfchen, mit denen sich kalkulieren ließ. Es gab da diesen Mönch Martin Luther, der 1517 gegen diese Praktiken seine Thesen formulierte. Was bekanntlich zur Reformation führte.

Welche Rolle General Franco bei der neuzeitlichen Wiederbelebung des Camino geführt hat, weiß ich nicht genau, aber eigentlich hat es mich nur gewundert, dass nach diesen Zeiten der Franco-Diktatur der Camino dann auch vom Europarat in Straßburg wieder aus der Versenkung geholt und zur ersten Europäischen Kulturroute erklärt wurde. Als ein Symbol für Europas Kultur und damit auch für die Zukunft des europäischen Projekts. Das war 1987.

Meines Wissens war das mit beträchtlichen finanziellen Mitteln aus den EU-Töpfen für sog. strukturschwache Gebiete verbunden. Das heißt: es ging von vornherein auch um die strukturelle Entwicklung und Wiederbelebung des Hinterlandes mittels Gelder für Infrastruktur und die Restaurierungen von Kirchen, Klöstern usw. Tourismus ist ein extrem wichtiger Posten für Spaniens Wirtschaft. Die Küsten waren da schon zugebaut (auch das hatte schon Franco angestoßen). Diese touristische Ausweitung ins Hinterland funktionierte dann umso besser, als auch der Unesco Weltkulturerbetitel für den Camino in 1993 dazukam. Das war die beste Werbung überhaupt.

Und so gesehen finde ich, dass nicht nur Pilger, sondern auch einfache Touristen in gewisser Weise Mittel zum Zweck sind. Aber soll man sich deshalb beklagen?

Aber du hast ganz sicher Recht: es ist eine Bewegung „von unten“, die sich die Touristiker zu Nutze machen konnten. Andernorts konnten noch so viel Geld und Knowhow in touristische Ziele hineingepumpt werden – und es passierte trotzdem nichts. Als ich mich in 2003 endlich lange genug frei machen konnte und auf den Camino ging, wurde überall von Shirley MacLaine geredet, die in 2001 ihren Camino-Trip samt ihrer esoterischen Vorstellungen publiziert hatte und damit irre erfolgreich war. Und in deren Folge sich Scharen von US-Amerikanern nach Spanien aufgemacht hatten. Die Geschichte, die Paulo Coelho geschrieben hatte, war da schon eine Weile her (1987), sie hatte viele Südamerikaner auf den Camino gelockt. Und es gab auch Schriftsteller wie Cees Notteboom oder René Freund, die dort längst unterwegs gewesen waren und eine beachtliche Leserschaft hatten.

Aber auch schon damals betrauerten viele, die den Camino zum zweiten oder dritten Mal gingen, den Verlust des Echten und Wahren, kurzum das Ende der alten Zeiten, als auf dem Camino alles angeblich noch nicht so touristisch war. Und erst recht, als dann das Internet aufkam und viele der Pioniere ihre Geschichten aufschrieben und ihre Tipps weitergaben.

Trotzdem finde ich es richtig und wichtig, sich zu erinnern und die Eindrücke und Erlebnisse von damals anschaulich vor Augen zu halten. Denn da stecken Gefühle mit drin und die gehören zu den Menschen, die gegangen sind, und damit zu der ganzen Geschichte. Ich persönlich finde es großartig, wenn man daran Anteil und eine gute Zeit hatte.

Natürlich kann man ausweichen auf andere, nicht so begangene Routen. Aber das, glaube ich, ist ein ganz anderes Thema.

Gruß chrisbee
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CyrusField
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von CyrusField »

Guten Morgen alle beieinander :)

Ich bin meinen ersten Camino erst 2018 gepilgert. Nicht, dass ich nicht schon früher darüber nachgedacht hatte, aber vor Ende 30 hatte ich irgendwie andere Dinge im Kopf.

Mein erstes Mal war der Francés. Warum? Weil ich den im Grunde als einzigen mit Jakobsweg assoziiert hatte. Kerkelings (Hör-)Buch - man mag ja davon halten, was man will - war sicherlich auch einer der Tropfen, die mein persönliches "Ich bin dann auch mal weg"-Fass zum überlaufen gebracht haben.

Sicherlich war mein erster Pilgerweg nicht perfekt. Ich hätte bestimmt an der einen oder anderen Stelle ein bisschen links und rechts schauen sollen. Hätte vielleicht an bestimmten Orten verweilen sollen oder vielleicht einfach mal einen Umweg gehen. Aber es war mein Weg. Vor allem war bzw. ist es eine Erfahrung, die ich um kein Geld der Welt vermissen möchte.
Ich bin dankbar für die vielen Herbergen, die es mir ermöglicht haben, einen Pilgertag mehr oder minder dort zu beenden, wo ich gerade Lust (oder manchmal auch gerade eben keine Lust mehr hatte). Ich bin dankbar für die Bänke am Wegesrand, die Bars und Restaurants und die vielen Brunnen und Wasserspender. Das alles gäbe es nicht, wenn nicht viele Pilger unterwegs wären.

Wie gesagt, ich kenne es nicht anders. Mit ein Grund, weswegen ich den Francés zwar irgendwann einmal, aber nicht in absehbarer Zeit noch einmal pilgern möchte ist, dass - ich kenne mich ja so einigermaßen - ich ansonsten alles mögliche miteinander vergleichen würde und dem Weg damit Unrecht tun würde. Zumindest mir geht es so, und das soll absolut keine Unterstellung sein - man neigt ja dazu, Dinge, die man in positiver Erinnerung hat, romantisch zu verklären. "Früher war alles besser" kommt ja nicht von ungefähr. Früher war alles anders, aber nicht unbedingt besser, oder?

Die Welt wandelt sich. Ebenso die Jakobswege, die ja ein Teil von ihr sind. Die Welt ist besonders in den vergangenen 25 Jahren viel, viel schnelllebiger geworden. Das färbt natürlich auch auf den Jakobsweg ab. Unbestritten - die Erwartungshaltung vieler Menschen an einen Pilgerwegs ist natürlich manchmal überzogen. Daran sind die Influencer mit ihren unrealistischen Hochglanz-Fotos nicht schuldlos. Die Menschen, die diese Fotos für bare Münze nehmen, haben vielleicht auch ein kleines Problem mit Medienkompetenz, denn Werbung sollte man halt nicht alles glauben ;)

Aber ist das schöne an den Jakobswegen nicht, dass man Menschen aller möglichen Facetten trifft? Auch wenn die "Generation Handy" inzwischen einen Teil der Pilgergemeinschaft darstellt, lasst sie doch. Wenn ich mich damit nicht identifizieren kann, brauche ich mich mit ihnen ja gar nciht beschäftigen. Es gibt genügend andere interessante Menschen unterwegs zu treffen. Wenn das Handy immer und überall Teil ihres Weges ist, wer bin ich, ihnen das in Abrede zu stellen? Klar, gab es das früher nicht. Aber früher gab es auch keine Infrastruktur, keine leichten Rucksäcke, keine Multifunktionskleidung oder Merino-Shirts und -Socken, keine Tarps oder Ultraleicht-Zelte, und, und, und... Früher gab es übrigens auch deutlich mehr bissige Hunde. Und weshalb? Weil die Hunde es überhaupt nicht gewohnt waren, dass fremde Menschen durch ihr Revier ziehen. Ich bin übrigens auch froh, keine Angst mehr haben zu müssen, in den Gänsebergen ausgeraubt zu werden :D

Letztlich ist es doch nur der immer selbe Kreislauf. Die Menschen wollen Geld verdienen, um sich ein solides Leben zu ermöglichen. Wenn es dafür mehr Pilger braucht, muss dafür eben geworben und der Weg "aufgerüstet" werden. Haben denn die Menschen im Mittelalter ausschließlich altruistisch gehandelt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass nicht auch eine Spur Eigennutz dabei war, wenn damals ein Hospital irgendwo hingebaut wurde...

Kölsches Grundgesetz, Artikel 1: Et es wie et es. - und gleich Artikel 4 hinterher: Wat fott es, es fott.. Ich nehme noch Jede Jeck es anders, jeder es anders jeck, und jet jeck sin mir all. mit dazu.

In diesem Sinne:
Buen Camino und fröhliche Weihnachten. Bleibt gesund!

Stefan
Camino Francés 2018
Mosel-Camino 2019
Via Mosana 2019 - ... (das wird noch :lol:)
Caminho Portugês Central 2020
Camino Inglés 2022
...und auch sonst viel zu Fuß unterwegs: https://stefansspuren.com 8-)
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Annkatrin
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Annkatrin »

So ist es. Wie las ich vor Jahren auf einem Banner in Preetz so treffend
"Sie stehen nicht im Stau, Sie sind der Stau".
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von Pooh_der_baer »

CyrusField hat geschrieben: 22. Dez 2021, 08:31

Letztlich ist es doch nur der immer selbe Kreislauf. Die Menschen wollen Geld verdienen, um sich ein solides Leben zu ermöglichen. Wenn es dafür mehr Pilger braucht, muss dafür eben geworben und der Weg "aufgerüstet" werden. Haben denn die Menschen im Mittelalter ausschließlich altruistisch gehandelt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass nicht auch eine Spur Eigennutz dabei war, wenn damals ein Hospital irgendwo hingebaut wurde...
Es wurden nicht nur Hospitäler irgendwo hingebaut, sondern auch Brücken und Strasse, s. Domingo de la Calzada u.a.
Reliquien wurden wurden verlegt, teilweise durch Raub
Alles nur um Pilger anzulocken und so damit Geschäfte zu machen.
CyrusField hat geschrieben: 22. Dez 2021, 08:31
Aber ist das schöne an den Jakobswegen nicht, dass man Menschen aller möglichen Facetten trifft? Auch wenn die "Generation Handy" inzwischen einen Teil der Pilgergemeinschaft darstellt, lasst sie doch. Wenn ich mich damit nicht identifizieren kann, brauche ich mich mit ihnen ja gar nciht beschäftigen. Es gibt genügend andere interessante Menschen unterwegs zu treffen. Wenn das Handy immer und überall Teil ihres Weges ist, wer bin ich, ihnen das in Abrede zu stellen? Klar, gab es das früher nicht.
Schade ist aber, wenn durch die "Generation Handy" ein Austausch mit Menschen nicht möglich ist. So wie mir 2014 auf Teilen meines damaligen Weges geschehen.
Wer sich nicht erinnert, den bestraft die Zukunft.
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Re: CAMINO WIRD TOURISTISCH AUFGEPEPPT

Beitrag von CyrusField »

Pooh_der_baer hat geschrieben: 22. Dez 2021, 13:18 Es wurden nicht nur Hospitäler irgendwo hingebaut, sondern auch Brücken und Strasse, s. Domingo de la Calzada u.a.
Reliquien wurden wurden verlegt, teilweise durch Raub
Alles nur um Pilger anzulocken und so damit Geschäfte zu machen.
Das unterstreicht meinen Punkt ja nur noch mehr.

Pooh_der_baer hat geschrieben: 22. Dez 2021, 13:18 Schade ist aber, wenn durch die "Generation Handy" ein Austausch mit Menschen nicht möglich ist. So wie mir 2014 auf Teilen meines damaligen Weges geschehen.
Aus - in dem Fall - Deiner Sicht schon. Aber würden diese Menschen den Austausch wollen, wenn sie kein Handy in der Hand hätten? Wenn ich jemanden anspreche (und das kann ich ja auch tun, ob Handy in der Hand oder nicht) und ich merke, dass der-/diejenige sich gar nicht unterhalten will, zwinge ich ja auch kein Gespräch auf. Die Leute machen das ja nicht aus böswilliger Absicht, sondern weil sie sich etwas davon versprechen. Was auch immer das sein mag.

Aber klar, natürlich wäre es supertoll, wenn jede(r) auf dem Weg offen für Begegnungen und Gespräche ist. Aber das kann und darf man wohl kaum erwarten oder verlangen. Früher nicht und heute auch nicht.
Camino Francés 2018
Mosel-Camino 2019
Via Mosana 2019 - ... (das wird noch :lol:)
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Camino Inglés 2022
...und auch sonst viel zu Fuß unterwegs: https://stefansspuren.com 8-)
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