Was wissen sie denn besser als ich? Sie haben eine andere Erfahrung gemacht. Aber wissen sie, welche Erfahrungen ich gemacht habe?Gerhard Nikolaus hat geschrieben: ↑16. Jun 2022, 13:27 ... rede aber bitte nicht von Menschen, die es besser wissen als Du, sie hätten mit 1,5 Jahren Dienst an der Gemeinschaft Lebenszeit vergeudet.
Ich habe den Kriegsdienst verweigert und sah damals im Zivildienst einen Kriegsdienst in anderer Form (was ich heute noch so sehe). Entsprechend hatte ich versucht, mit einigen selbst herbeigeführten Symptomen ausgemustert zu werden. Beinahe wäre mir das gelungen, aber leider nur beinahe. Ich habe dann den Zivildienst möglichst schnell antreten wollen, weil ich die Ausbildung gerade beendet hatte und arbeitslos war. Jede Facharbeiterstelle, auf die ich mich bewarb, wurde bei der Frage, ob ich bereits gedient habe, hinfällig. Und schlecht bezahlte Hilfstätigkeiten – dazu war ich mir zu schade.
Es gab natürlich „Jolly Jobs“, wo man eine ruhige Kugel schieben konnte. Aber die waren auf lange Zeit ausgebucht. Und wo man IMMER kurzfristig anfangen konnte, war der Pflegebereich. Denn den Pflegenotstand gab es schon vor über 30 Jahren. Und in der Pflege wollte kaum einer den Zivildienst leisten.
So habe ich in der Krankenpflege in einem Krankenhaus begonnen. Innere Station, Durchschnittsalter vielleicht 70 Jahre.
Und ja: ich hatte viel Idealismus, wollte meine Sache gut machen!
Dort herrschte Chaos pur. Der Stationsleiter hatte wenige Tage zuvor dort angefangen, nachdem die Station schon einige Zeit ohne Leitung auskommen mußte. Nach ein paar Tagen meldete er sich bereits krank. Drei Wochen später war er wieder weg, ohne daß ich ihn nochmals gesehen hatte. Also wieder ohne Leitung. Es hatten auch kurz zuvor neue Auszubildende begonnen. Die hatten zwar zuvor schon Theorie, waren aber dann gerade die ersten Tage in der Praxis. Fragen brauchte ich sie nichts, denn sie wußten auch noch nichts. Eine Einführung, eine theoretische Schulung für mich war erst nach 2 Monaten angesetzt. Man hat mich, der ich medizinisch völlig unbeleckt war, auf die Menschheit losgelassen. So habe ich dann eine betagte Patientin ans Waschbecken gebracht, damit sie sich waschen konnte. Und bin anschließend zusammengestaucht worden, weil diese gar nicht hätte aufstehen dürfen. Herzinfarkt, strengste Bettruhe. Jede Anstrengung hätte einen Re-Infarkt und ihren Tod verursachen können. Aber das konnte ich nicht wissen, denn mir hat man nichts gesagt. Die Examinierten waren total im Streß; es gab keine Einarbeitung für mich.
Einer anderen Patientin hatte ich die Infusion kurz abgestellt, weil die Flasche auslief. War leider auch ein Fehler, denn die lief anschließend gar nicht mehr. Leider hatte sie einen Herzkatheter, der dann neu gesetzt werden mußte, was mit Risiken verbunden ist. Konnte ich das wissen? Nein, sicher nicht.
Zwei Monate hatte ich dann Dienst verrichtet; ständig aus Unwissenheit Fehler gemacht, die einem Patienten das Leben oder Gesundheit hätten kosten können. Zwei Monate Menschen zu versorgen, die sich nach Schlaganfall o.ä. oft genug nicht einmal äußern konnten!
Steckt man so etwas locker weg? Oder ist das eine Belastung?
Für mich war es mehr als belastend. Als ich dann nach zwei Monaten den Einführungslehrgang vor mir hatte, war ich so weit, daß ich um Versetzung gebeten habe. Ein Vorgang, der wieder einmal lange Zeit dauerte. Als ich nach 3 Wochen Lehrgang zurückkam, hatte sich dann viel verändert. Ich hatte das Grundwissen, daß ich brauchte. Einen „Freund namens Google“ gab es damals ja nicht. Und es gab einen neuen Stationsleiter, der sehr schnell das totale Chaos unter Kontrolle brachte. Respekt! Trotzdem wollte ich mein Gesuch nach einer Versetzung nicht zurücknehmen und bin dann in die Haustechnik eines Altenheimes gekommen. Mein Aufgabenbereich war rein handwerklich, eine soziale Komponente sah ich darin nicht, keinen Unterschied zu einer normalen Arbeit.
Als ich dann vom Kreiswehrersatzamt noch einen Termin bei einem Psychiater bekam, habe ich die Möglichkeit genutzt und mich eingehend darauf vorbereitet. Dem habe ich dann einen potentiellen Selbstmörder vorgespielt – und bin vorzeitig entlassen worden. Ausgemustert! Geschafft! Hurra!
Meine Frage nun: sollte ich der Einzige gewesen sein, für den der Dienst zum täglichen Horror geworden ist? Zu einer täglichen Gewissensbelastung? Immer kurz davor, diejenigen, denen ich helfen sollte, zu schaden? Das kann ich nicht glauben.
Es ist nicht jeder junge Mensch für eine soziale Arbeit geeignet. Und in den zwei Monaten gab es immerhin gleich 3(!) Auszubildende auf dieser einen(!) Station, wo ich einerseits sagen konnte: „Wie gehen die denn nur mit Menschen um?“ - und die innerhalb dieser Zeit ihre Ausbildung abbrachen. Nicht, weil sie es wollten, sondern weil man es ihnen angeraten hatte. Im Klartext: die waren für ihren selbst gewählten Beruf völlig ungeeignet.
Wer von den Dienstbefürwortern hier hat denn selbst einmal ohne jede Vorkenntnis einen solchen Dienst geleistet?
Wer hier hat seinen Zivildienst in der Krankenpflege geleistet?
Wer hier „weiß es denn besser“?