Sehr gern! Mit Pilger(Power)Wolf habe ich mich auch schon über Signal vernetzt. Wer weiß, wofür es mal gut ist.
Ruta de la Lana nach Covid
Re: Ruta de la Lana nach Covid
Caminos del Norte, Primitivo, Muxia y Fisterra, Portugués mit Variante espiritual, Mozárabe; Voie de Régordane, Chemin du Piémont Pyrenéen, Route Bidassoa-Nive;
Via Regia, Via Jutlandica, Via Porta, Münchener Jakobsweg u.v.m. in Deutschland
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Ich starte ab Valencia, Du ab Alicante. Bis Monteagudo de las Salinas, wo die Wege zusammen kommen, hast Du 11 Etappen, ich 8. Vorausgesetzt, wir gehen beide die vorgeschlagenen Etappen. Da ist ein Treffen nicht unwahrscheinlich, ganz im Gegenteil.
BC Wolfgang
Gelaufen: 8 * Português, 4 * Fisterra/Muxia, 2 * Francés, Inglés, Pommerscher Jakobsweg, Fischerweg, del Norte, dos Faros, Via de la Plata
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
@Powerwolf: Mir gefällt dein Vorschlag. Die Telefonnummer kommt in Kürze. Ich starte am 12., du am 15.. Wer wohl in wessen Schuhabdrücke läuft? Auch ein Treffen ist vorstellbar.
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Ich starte ab Valencia, Du ab Alicante. Bis Monteagudo de las Salinas, wo die Wege zusammen kommen, hast Du 11 Etappen, ich 8. Vorausgesetzt, wir gehen beide die vorgeschlagenen Etappen. Da ist ein Treffen nicht unwahrscheinlich, ganz im Gegenteil.
BC Wolfgang
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Und ich lege meine Siebenmeilenstiefel an und hole Euch bis Cuenca ein!
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Ich starte ab Valencia, Du ab Alicante. Bis Monteagudo de las Salinas, wo die Wege zusammen kommen, hast Du 11 Etappen, ich 8. Vorausgesetzt, wir gehen beide die vorgeschlagenen Etappen. Da ist ein Treffen nicht unwahrscheinlich, ganz im Gegenteil.
BC Wolfgang
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Und ich lege meine Siebenmeilenstiefel an und hole Euch bis Cuenca ein!
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Dann werd ich mal beim Olympischen Komitee anfragen, ob sie Wettpilgern als neue Disziplin aufnehmen möchten. 3 Kandidaten für die Treppchen hätte ich schon! 

Re: Ruta de la Lana nach Covid
Liebe Camino-FreundInnen,
bevor ich auf den nächsten Camino aufbreche, möchte ich Euch noch mit einem (Achtung, sehr ausführlichen) Bericht über die Ruta de la lana erfreuen - oder langweilen, je nachdem.
Ich war im letzten Frühjahr von Alicante bis Burgos unterwegs und habe Auszüge aus meinem Tagebuch zusammengestellt.
30.3.2024, Ostersamstag
Der Weg aus einer Großstadt heraus ist nie eine reine Freude. Hier dauerte es zwei Stunden, bis die ganze Gewerbegebiete, Autobahnen und Gleise überwunden waren.
Am Schluss passiert man noch den Zentralfriedhof. Sollte es zu denken geben, dass auch ausgerechnet dort der erste Hinweis auf den Pilgerweg nach Santiago auftaucht?! Später folgte noch eine Variante mit einem niedlichen Pilgerfigürchen. Insgesamt haben die Amigos del Camino de Santiago großartige Arbeit geleistet und alles mit gelben Pfeilen zugekleistert.
Der Camino führt durch eine sehr karge, trockene Landschaft, die aber durchaus ihren Reiz hat - zumindest am ersten Tag. Nach einer Woche könnte die Begeisterung nachlassen. Vor allem, wenn an den Reben, die den zukünftige Vino tinto hervorbringen, bestenfalls ein paar grüne Blättchen zu sehen. Meist sieht man aber nur knorriges Braun auf roter Erde.
Kurz vor Orito wandelt sich das Bild, und der Pilgerweg durchquert einen spannenden Canyon. Auch bei nur 17 Grad im Schatten brachte die Kombination aus Sonne, Rucksack und ständigem Auf und Ab mich durchaus ins Schwitzen. Im August möchte ich hier wirklich nicht unterwegs sein!
Ende März gibt es ja noch nicht viel zu ernten. Eine Apfelsinenplantage am Wegrand war als durchaus eine große Versuchung. Aber meine Beherrschung sollte später noch belohnt werden.
Die Herberge in Novelda, die ich nach acht Stunden und ca. 30 km erreichte - seit dem Nachmittag kräftig durchgepustet und gerade rechtzeitig vor den ersten Regentropfen - ist ein Traum, untergebracht in einem Wohn- und Geschäftshaus an der Hauptstraße, wo niemand eine Herberge vermuten würde. Und tatsächlich ist es eine komplette Wohnung mit drei Schlafzimmern, zwei Bädern und einem Salon mit gefliestem Boden und Stilmöbeln, aber alles bestens ausgestattet von Leuten, die selbst pilgern und deshalb wissen, worauf es ankommt.
Das Gästebuch macht deutlich, dass es ein wirklich wenig frequentierter Pilgerweg ist und zudem kaum jemand aus Deutschland kommt. Aber so richtig echt, „so wie das Pilgern früher mal war“, werde es erst ab Cuenca, stellte mir der freundliche Hospitalero Paco in Aussicht.
Paco machte mir sogar noch ein Geschenk: sechs fette Bio-Orangen aus dem eigenen Garten. Ganz entzückend, aber was dachte sich der Mann nur, was eine Pilgerin mit zwei Kilo Obst anstellen sollte?!
Das verlockende Schaumbad, mit dem ich mich zum Tagesausklang verwöhnen wollte, war leider nur lauwarm – ein zu kleiner Boiler -, aber das buchte ich als Schönheitsfehler ab.
Mit meinen Einkäufen von Aldi (!) und vielen Orangen richtete ich mir noch ein üppiges Abendessen und bereitete für den nächsten Tag auch noch ein paar Ostereier vor: gekochte Eier mit der Kugelschreiber-Aufschrift „rot“, „blau“ und „grün“. Schokoladeneier kennen die Spanier nicht.
Die Osternacht wird hier leider um 24 Uhr gefeiert, eigentlich sehr würdig und stimmungsvoll, aber dafür reichte meine Energie dann doch nicht mehr aus.
Ostersonntag, 31.3.2024
Ich hätte doch zur Osternacht gehen können - lange genug wach war ich allemal: dank der Wasserspülung der Toilette Wand an Wand mit meinem Schlafzimmer: dauerndes Tröpfeln und alle 45 Sekunden kaskadenartiges Rauschen, die pure Marter für müde Menschen. (Die Reaktion des Hospitaleros auf meine SMS am nächsten Tag war relativ lässig: „Ach, ja, da ist wohl etwas defekt“.)
Irgendwann zog ich in das am weitesten entfernte aber leider straßenseitige Schlafzimmer um, nur um zu erleben, dass die gesamte Jugend von Novelda sich offenbar unter meinem Fenster (die typischen einfach verglasten Schiebefenster, die man in so vielen spanischen Häusern findet) zu einem nächtlichen Motorradrennen verabredet hatte. Also drehte ich kurzerhand den Haupthahn ab und bezog wieder Bett A. Danach war die Zeitumstellung auch schon egal...
Es wurde allerdings nun erst gegen halb acht hell, deshalb bekam ich von Novelda City nur einen kleinen Eindruck. Ich scheine allerdings nicht viel verpasst zu haben.
Später wanderte ich stundenlang durch die malerische Flusslandschaft des Rio Viñalopó, vorbei an einer auf einem Berg gelegenen Kirche im Gaudí-Stil - leider, leider auf der falschen Flussseite… Und da sich nun auch der angekündigte Regen einstellte, gab es schier gar keinen Anreiz mehr für eine Besichtigung.
Diesmal hatte ich allerdings einen guten Regenschutz bei mir: einen kleinen aber stabilen Schirm, und ich fragte mich, warum ich bloß nicht vorher auf die Idee gekommen sei, mir solch ein Utensil zuzulegen. Am Ende dieses Tages nichts durchnässt. Allerdings schleppte ich zeitweise wohl an jedem Fuß ein Kilo Matsch mit. Da auch der Rucksack dank der vielen Orangen von Paco und meiner Wochenendeinkäufe bei Aldi tonnenschwer wog, eilte ich nicht ganz so beschwingt voran, nahm mir dafür aber Zeit für Flora und Fauna (Kaninchen und Vögel, eher unspektakulär) und schulte meine Sinne: was höre ich, was rieche ich?
Dummerweise gab es wegen der Nässe partout keine Gelegenheit zu rasten (vielleicht hätte ich doch in der Röhre den Regen aussitzen sollen), und so stürzte ich mich nach viereinhalb Stunden dankbar auf ein bescheidene Plätzchen unter einer Autobahnbrücke: einen niedrigen Markierungsstein.
Und endlich gab es auch Essen und Trinken! Wenn es dauernd regnet, vermeidet man tunlichst eine zu volle Blase...
Als für eine Stunde sogar mal die Sonne herauskam, entfaltete die Landschaft plötzlich ihren ganzen Zauber.
Doch das Glück hielt nicht lange an, und so verwarf ich schnell wieder den Plan, noch zehn Kilometer weiter bis Villena zu laufen. In Sax – einer kleinen Stadt mit feiertäglich hochgeklappten Bürgersteige - steuerte ich auf der Suche nach einem Stempel die erstbeste Bar an - und fand innen alles voll mit schmausenden Familien. Am Tresen lungerten die üblichen einzelnen Männer herum und knabberten Oliven zu ihrem Bier, also kaufte ich mir eine Flasche Wasser und gesellte mich dazu, während der Wirt den Stempel suchte.
Und, interessierte sich jemand für die fremde Blondine mit dem Rucksack, die einen Hauch von Abenteuer aus der großen weiten Welt in diese lärmende Kneipe mitbrachte?! Nadie. Niemand. Ich war fast ein bisschen beleidigt und machte mich direkt auf zum Bahnhof.
Vom Feinsten: ein kleiner Warteraum mit Stühlen, einem Fahrkartenautomaten und einer sauberen Toilette. Kein Problem also, hier eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges warm und trocken zu sitzen, während draußen der Regen plätscherte.
Eine weitere Stunde Aufenthalt hatte ich in Villena, das mit seinem Kulturerbe wirbt. Und tatsächlich, selbst unter grauem Himmel bewies die Stadt deutlich mehr Charme als alle anderen, die ich bisher durchquert hatte.
Sogar ein Theater und ein Konservatorium hat Villena, keinem Geringeren als dem Zarzuela-Komponisten Ruperto Chapí gewidmet.
Auf der Weiterfahrt nach Almansa konnte ich mir erneut zu meiner Idee gratulieren, schon gleich zu Beginn die zwei in meinem Zeitplan fehlenden Tage einzusparen: die Etappe verläuft ewig lange parallel zur Autobahn oder der Eisenbahn, und alles drumherum ist nur platt und braun. Und derzeit auch noch matschig. Nein, danke!
Almansa erreichte ich am frühen Abend - bei 8 Grad, wie mir sie das Thermometer an einer Apotheke anzeigte!
Die Pilgerherberge wird von den Religiosas esclavas de María (jawohl, Sklavinnen, nicht nur Dienerinnen!) betrieben. Das unauffällige Wohnhaus beherbergt jedoch keinen Konvent, wie mir eine gestrenge Dame bei der Anmeldung am Telefon mitgeteilt hatte, sondern eine Residencia de monjas. Immerhin also Nonnen, und so freute ich mich auf Gastfreundschaft, ein paar interessante Gespräche und vielleicht die Möglichkeit, an einem der Stundengebete teilzunehmen. Pero nada! Ich bekam den Stempel in meinen Credencial, zahlte rührend bescheidene sieben Euro und wurde in mein Zimmerchen geschickt, mit der Aufforderung, am nächsten Tag vor meinem Weggang kurz zu klingeln und „die Peregrina“ zu rufen.
Auch recht. Mit Körper- und Kleidungspflege, reichlichem Essen (bis zum nächsten Tag musste der Rucksack leichter werden) und ein bisschen digitaler Kommunikation ging der Abend ruckzuck vorbei.
Auch heute waren keine anderen Pilger weit und breit zu erspähen. Unterwegs trifft man - das kenne ich von anderen Wegen - fast nur Hundegassiführer und Fahrradfahrer, die freundlich „Buen camino“ wünschen.
Ein Mann sprach mich an: ob ich auf dem Camino de Santiago unterwegs sei? Er sei auch schon zwei Etappen von der Ruta de la Lana gelaufen und wolle sich stückweise voran arbeiten.
Ja, nicht alle genießen den Luxus, vier Wochen Urlaub nehmen zu können, ich weiß es und bin dankbar dafür.
1.4.2024, Ostermontag
Schönstes Wetter war vorhergesagt, morgens noch kalt, aber im Laufe des Tages sonnig und bis zu 17 Grad. Entsprechend packte ich also auch meinen Rucksack, und entsprechend frohgemut verließ ich die triste Nonnenresidenz - ohne Abschied, weil ich aus dem oberen Stockwerk gemurmelte Gebete hörte.
Der Auszug aus Almansa kurz nach Sonnenaufgang war noch vielversprechend. Völlig ungeplant zog sich aber der Himmel nach kurzer Zeit über der Sierra de Mugrón wieder zu, und von da an wurde es fies kalt, weil eine mehr als steife Brise wehte. Aber ganz egal, denn das ständig wechselnde Licht und das Farbenspiel entzückten mich über Stunden hinweg.
Die vielen wilden Tiere, die man hier beobachten können soll, erspähte ich leider nicht. Dafür aber, als ich hinter der Hügelkuppe nach einem geschützten Platz für eine Rast Ausschau hielt, auf einem Pfad zehn Meter links von mir einen anderen Menschen. Mit Rucksack! Da es mir auf meinen Caminos schon einige Male passiert ist, dürfte es mich eigentlich nicht mehr so sehr überraschen, und gerade heute Morgen hatte ich eine kleine Botschaft gen Himmel gesandt: „Halte mich bitte nicht für undankbar, alles ist prima, und mir geht's gut. Aber so ein klitzekleines bisschen Gesellschaft wäre jetzt doch mal nett...“
Et voilà.
„Hola“, schrie ich gegen den Wind, „peregrino?“ „Sí“, ertönte es zurück. „Eres Christiane?“
Mein Ruf war mir nicht etwa vorausgeeilt - der französische Kollege hatte ebenfalls bei den Sklavinnen in Almansa übernachtet und meinen Namen im Gästebuch gesehen. Wir freuten uns beide sehr über ein bisschen Gesellschaft, auch wenn sich herausstellte, dass sich unsere Wege bald schon wieder trennen würden, weil Gilles auf dem Camino de Sureste pilgert.
Wir liefen also zusammen nach Alpera und unterhielten uns großartig - er übrigens in einem exzellenten Englisch, das er vierzig Jahre am Lycée unterrichtet hatte. Ich habe noch nie einen Franzosen ein so schönes und vor allem idiomatisches Englisch sprechen hören - und dabei eine Menge Vokabeln und Floskeln gelernt.
Alpera empfing uns nach sechs Stunden und 23 km freundlich, aber leider hatte das Ayuntamiento eine Viertelstunde zuvor zugemacht. Bei der Polizei, die angeblich auch einen Herbergsschlüssel verwahrt, hatte ich den ganzen Morgen vergeblich angerufen - und vor Ort las ich dann staunend, dass sie nur dienstags von 11.45 bis 13.45 Uhr geöffnet habe. Außerhalb dieser Zeiten also bitte keine Verbrechen begehen, liebe Alperos!
Also liefen wir auf gut Glück zur Herberge - vielleicht würde ja ein Zettel mit einer Telefonnummer an der Tür hängen, aber nichts dergleichen. Weitere Mobiltelefonnummern von unserer beider Listen hatten sich auch schon als nutzlos erwiesen. Aber als wir ratlos auf der Straße standen, winkte uns eine Frau zu: den Schlüssel gebe es im Altersheim-!
Auf die Idee muss man wirklich erst mal kommen, aber der Vorteil besteht darin, dass dort rund um die Uhr Personal anwesend ist. Und so wurden wir auch nett empfangen, zahlten sieben Euro, bekamen unsere Stempel und, hurra, den Schlüssel.
Weniger hurra die Herberge selbst. Sie bietet zwar fünfzehn Schlafplätze in zwei Zimmern (hier?!), aber keine Küche, keine Einmalbettwäsche und keine Wärme, denn alle Thermostate waren von den Heizkörpern abgeklemmt worden. Tütenweise Müll und zerwühlte Betten deuteten darauf hin, dass hier länger keiner mehr aufgeräumt hatte, also fingen wir damit erst mal an.
Während Gilles dann Siesta hielt, ging ich Alpera erkunden, auch in der Annahme, es sei draußen wärmer als drinnen und ich würde sicher irgendwo einen Platz in der Sonne finden.
Heute jedoch nicht. Das kleine Städtchen ist durchaus sympathisch, aber - zumindest an diesem Nachmittag - winddurchtost und bitterkalt. Außerdem fast menschenleer; und alle Sehenswürdigkeiten waren geschlossen, die Kirchen natürlich auch.
ABER - und damit war unser Abend gerettet - um 17 Uhr öffnete nach der laaangen Mittagspause ein gut sortierter Supermarkt. Und so konnten wir dann gemeinsam höchst stilvoll im schäbigen „Salon“ Cuisine Française genießen: Mikrowellenmenüs, Tütensalat, Obst und Joghurt.
Anschließend blieb nicht mehr zu tun, als in die relative Wärme der Betten zu fliehen. Ohne vorherige Dusche - die Aussicht, sich entkleiden zu müssen, war alles andere als angenehm. Aber Sauberkeit wird ohnehin völlig überbewertet.
2.4.2024
Morgens um kurz vor acht musste ich mich von dem netten Gilles verabschieden. Er hatte eine schlechte, kalte Nacht verbracht, während es mir in meinem Kokon aus Schlafsack, Kapuze und Wolldecken so gut ergangen war wie in den letzten Tagen noch nie. Und es wurde noch besser: Der nette Bäcker in Alpera schenkte mir mein (ödes) Weißbrot - und noch einen Beutel Kürbisküchlein dazu, weil man Pilger ja unterstützen müsse.
Überhaupt war es ein traumschöner Morgen, mit einem weiten Blick über die stadtnahen Gärten, Vogelgezwitscher und flachem, goldenen Licht - allerdings bei nur drei Grad, und ich war dankbar über die Handschuhe, die ich für alle Fälle eingepackt hatte. Und überhaupt dankbar für alles Mögliche, so dass ich doch tatsächlich in schöner chromatischer Folge mehrere Strophen von „Danke für diesen guten Morgen“ schmetterte-!
Längere Zeit verlief der Pilgerweg parallel zur „Ruta de los Molinos“, dem Mühlenweg. Aber sehr viel mehr als ein paar verfallene Gebäude ist hier nicht zu sehen, dafür aber jede Menge alter, teils schon eingestürzter Bewässerungssysteme.
Ausgedehnte Waldgebiete wechselten sich ab mit landwirtschaftlich genutzten Flächen. Da das Getreide inzwischen ein paar Zentimeter hoch war, hatte die braune Erde eine grüne Decke bekommen. Die Weinstöcke dagegen würden wohl noch ein paar Wochen brauchen.
Unterwegs traf ich buchstäblich niemanden, und selbst auf den vereinzelten Gehöften zeigten sich kaum Menschen. Dafür umso mehr Hunde, die aber bis auf einen nur hinter Zäunen und Mauern herumtobten. Dieser eine näherte sich mir erst ganz freundlich, vielleicht weil Herrchen mit einem Kleinkind im Arm daneben stand. Dann fing er aber an durchzudrehen, während der Besitzer ewig lange schwächlich „Vanda, no!“ flehte - bis er dann endlich auf die Idee kam, seine geifernde Töle anzuleinen, und sich mehrmals entschuldigte.
Weil ich wenig Lust hatte, wieder ab dem Nachmittag in einer kalten Herberge zu hocken, ließ ich mir viel Zeit und saß, nachdem es bald wärmer geworden war, genüsslich in der Sonne, lauschte den brummenden Insekten und den gurrenden Tauben oder schmökerte eine Runde in meinem Roman (natürlich nur in digitaler Form, d.h. auf dem Telefon). Erst gegen halb vier stieg ich zurück ins Tal, verließ damit das Funkloch und konnte mich telefonisch bei Pedro Antonio von den hiesigen Amigos del Camino de Santiago melden.
Eine halbe Stunde später erreichte ich Alatoz, ein beschauliches Städtchen mit 500 Einwohnern.
Pedro Antonio lud mich erst auf ein Getränk in die Bar ein, bereitete mich auf die kommenden Etappen und deren (nicht so tolle) Herbergssituation vor und begleitete mich dann zum Stolz der Amigos: der 2018 eingerichteten Albergue von Alatoz.
Sie ist ein Büdchen an der Seite einer riesigen Sporthalle, mit der man sich auch die sanitären Installationen teilt. Eine Küche gibt's nicht, aber eine Klimaanlage, die köstliche Wärme verbreitet! Und während sich der Raum aufheizte, trug ich mir einen Stuhl draußen in die Sonne und ging später noch auf Dorferkundung. Da gibt es eigentlich nicht viel zu erkunden, aber immerhin eine Kirche aus dem 18. Jahrhundert, die selbstverständlich verschlossen war. Der Schlüssel - das hätte ich mir ja wohl denken können! - wird in der Fleischerei aufbewahrt.
Ausgerechnet an diesem Tag war er allerdings unterwegs, und so kam ich mit dem Inhaber des kleinen Ladens ins Gespräch, nachdem er herumtelefoniert und die Rückgabe des Schlüssels eingefordert hatte. Ich bekam dann sogar eine persönliche Führung: „Was kannst du mir denn über die Kirche erzählen?“ - „Dass sie schön ist!“ Gelächter. (Das fand ich übrigens weniger). Im Gegenzug konnte ich mit der Geschichte von Faustyna auftrumpfen, denn auch hier hängt ihr Jesus-Bild, wenn auch nicht das „richtige“, also originale.
Zwischendurch wurde Matías immer mal wieder in seinen Laden gerufen, weil jemand Baguette oder eine Dose Tomaten kaufen wollte. Aber derlei sei nur Beiwerk, erzählte er mir, eigentlich kämen die Käufer wegen seines Fleisches: Top-Qualität, er schlachte selbst, und jeder wisse genau, was er hier bekomme. Er habe den Laden von seinem Schwiegervater übernommen und betreibe ihn jetzt schon seit dreißig Jahren. Schön und gut, und ich hätte ja auch gern etwas gekauft, aber ohne Küche...
Wir quatschten sicher eine halbe Stunde lang und verabredeten, das sogar noch fortsetzen. Lustigerweise hatte Matías nämlich am Folgetag in meinem nächsten Zielort zu tun, in Casas Ibáñez, und wenn es sich zeitlich ausginge, würden wir abends „una copa“ zusammen nehmen.
Eine Nachricht im Signal-Chat: Meine beiden deutschen Kollegen aus dem Pilgerforum, Wolfgang und Michael, die mir zwei Wochen voraus sind, stehen kurz vor dem Aufgeben, weil sie kein Spanisch können, dadurch nicht an wichtige Informationen (und Herbergsschlüssel) kommen und zudem unter Kälte, Wind und Regen leiden.
Was hab ich bisher ein Glück!
3.4.2024
32 km von Alatoz nach Casas Ibáñez, eigentlich keine große Sache, weil die Strecke überwiegend eben ist. Aber aus unerfindlichen Gründen kam ich heute kaum voran: mal drückte ein Schuh am Spann, dann wurde die Schnürung gelockert - nein, das war jetzt zu viel usw. Dann saß der Beckengurt irgendwie nicht richtig, oder der Verschluss der Bauchtasche drückte. Alles banaler Kleinkram, den ich eigentlich erst vom fünften Wandertag kenne.
Außerdem verbrachte ich viel Zeit mit Telefonieren. Gleich morgens rief der Amigo Pedro Antonio an, um zu hören, ob alles gut gegangen sei, und um mich noch mit weiteren Hinweisen für die nächsten Tage zu versorgen. Bis Fuentes gebe es keine Herbergen oder Acogidas municipales mehr, hatte er mir am Vorabend schon gesagt, aber die Amigos seien am Thema dran. Man kann sich tatsächlich stundenlang durch diverse Dienststellen telefonieren - für Casas Ibáñez gab ich irgendwann auf und reservierte ein Zimmer in einem Hostal; für Villarta am nächsten Tag gelang es mir tatsächlich, in Erfahrung zu bringen, in welcher Bar der Schlüssel für das Centro social verwahrt wird.
Aber vor allem wurde ich vom Fotografieren aufgehalten! Wieder so ein Tag, an dem sich die Szenerie dauernd veränderte - morgens bedeckter Himmel, später ein Mix aus Sonne und Wolken, nachmittags Sommer pur -, und ich musste immer wieder warten, bis das optimale Licht für Konturen und Farben sorgte. Leider sieht das, was ich auf der Speicherkarte habe, nur halb oder gar ein Viertel so schön aus wie das Erlebte!
Oliven, Pistazien und Mandeln werden neben Getreide hauptsächlich in dieser Gegend angebaut.
Lerchen glaubte ich gehört zu haben, Eidechsen flitzten auf warmen Steinen umher, und die ersten Schmetterlinge sah man auch schon. Leider immer noch keine Wildschweine, Mufflons, Bergziegen und was es hier noch so alles geben soll.
Am Ortsausgang des Dorfs Casas del Cerro bot sich mir dann ein atemberaubender Blick auf Alcalá de Júcar, auf einem Felsrücken hoch oberhalb des Flusses Júcar gelegen, der hier einen mäandernden Lauf im Talgrund nimmt.
Natürlich musste ich ganz runter zum Fluss absteigen und dann auf der Gegenseite alles wieder hoch kraxeln. Dafür, dass die Anlage zum Welterbe gehört, war sie erstaunlich wenig besucht. Aber die Zahl der Casas rurales, die man mieten kann, spricht für sich.
Meine Mittagspause genoss ich auf dem Platz vor der Burg, dann ging es weiter nach Casas Ibáñez: drei Stunden lang geradeaus durch pfannekuchenplatte Landschaft.
Und endlich, nach vier Tagen Woll-Weg, die erste Schafherde!
Mit einem Hirten, der nur noch einen Zahn besitzt, tagelang auf einem Steinhaufen hockt und aus einem Transistorradio Musik hört. Aber plaudern konnte und wollte er!
Die reizarmen drei Stunden wurden strammen Schrittes durchmessen, natürlich auch um rechtzeitig um 18 Uhr vor dem Hostal Matías aus Alatoz zu treffen!
Er war pünktlich, ich hatte gerade noch Zeit für einen Dusche, dann tranken wir unten in der Cafeteria ein Glas zusammen. Klar, dass der Caballero bezahlt – das scheint hier noch üblich zu sein.
Damit nicht genug, wurde ich von Matías auch noch zu einer Spritztour zu einem weiteren spektakulären Flusstal eingeladen, das ich morgen zu Fuß nicht durchqueren würde, wie er ankündigte. Eine riesige Waldfläche tat sich von oben auf, fast wie in Bolivien der Blick rüber in den brasilianischen Urwald. Na gut, wirklich nur fast, aber trotzdem war es eindrucksvoll und schön im Abendlicht. Leider konnte ich kein Foto machen, weil das Handy währenddessen seine dringend nötige Aufladung bekam, und die Kamera im Hotelzimmer lag.
Auf dem Rückweg ließ ich mich bei Mercadona absetzen und verfiel dann mal wieder dem Kauftausch mit anschließender Orgie im Hostal. Herrlich!
Meine beiden Compañeros auf der Ruta de la Lana, Wolfgang und Michael, hatten inzwischen auch ihr Tief überwunden und endlich besseres Wetter. Bis Samstag sollten die Temperaturen noch täglich weiter steigen. Heute waren es nur maximal 17 Grad, aber in der Sonne fühlte es sich schon fast wie Sommer an. (Nur dass man den in diesen Breiten lieber meiden sollte.)
4.4.2024
Auf die Dauer könne der Weg etwas eintönig werden: ganz eben, immer in der Nähe der Landstraße und geprägt von Getreidefeldern und Wein, das hatte mein Führer für die heutige Etappe von Casas Ibáñez nach Villarta angekündigt. Und das 27 km lang ohne Schatten. Nun ja.
Der Camino verläuft immer in der Nähe der Straße. Der Höhepunkt des Vormittags: ein Wechsel auf die andere Straßenseite.
Immerhin: kein Verkehrslärm. Und wenn die Umgebung reizarm ist, muss man sich seine Reize eben selbst suchen.
Wein in allen Variationen, zum Beispiel. Wer käme auf die Idee, dass diesen knorrigen Strünken eine so süffige Flüssigkeit zu verdanken sein würde?!
Nach vier Stunden - ja, ja, mit Hörbuch statt Reflexionen über das Leben im Allgemeinen und im Besonderen, ich gebe es zu -, nach vier Stunden also erreichte ich das Landstädtchen Villamalea. Nicht viel los hier.
Also ließ ich mich erst mal im Stadtpark nieder und guckte mir die wenigen Leute an: ein Mütterchen mit Gehwagen, einen alten Mann, der minutenlang jeden Baum betrachtete, und die üblichen Hundegassiführer.
Beim weiteren Bummel durch den Ort merkte ich, dass heute Markttag war. Wie gern hätte ich bei den üppig gefüllten Obst- und Gemüseständen zugeschlagen, aber es wäre wirklich idiotisch gewesen.
Und dann die nächsten Stunden durch eine sich wenig verändernde Landschaft und mit einer nicht immer ganz einfachen Suche nach dem richtigen Weg. Niemand sonst war unterwegs, mit Ausnahme von ein paar Weinbauern, die ihre Reben beschnitten und festbanden.
El Herrumblar, ein Dorf, das von Edward Hopper gemalt sein könnte.
Gegen Ende des Wandertages kam wieder die Sierra in Sicht.
Und schließlich Villarta, eine kleine Stadt, die vom Weinbau lebt und einen mehrfach prämierten Tropfen produziert.
Hier hatte ich mir eine Unterkunft im Centro social organisiert. Den Schlüssel dafür gab es jenseits der Öffnungszeiten des Rathauses in einer Bar (wie unoriginell!), wo am Spätnachmittag die üblichen alten Männer am Tresen hockten.
Die Unterkunft ist recht profan, trotz der sommerlichen Wärme auch einigermaßen frostig, aber La Alcaldesa, die Bürgermeisterin (grauer Kurzhaarschnitt, leuchtende helle Augen, Basecap) hatte mir Kissen, Decken und sogar Bettbezug und Handtücher bereitlegen lassen und fand das, als ich, um mich zu bedanken, an den Bar-Tisch trat, wo sie mit anderen Frauen quatschte, völlig selbstverständlich.
Nach einem Abendspaziergang durch den Ort setzte ich mich vor der Kirche in die letzte Sonne, während um mich herum Kinder auf Fahrrädern ihre Kreise zogen.
5.4.2024
Interessant zu beobachten, wie die Bar hier wirklich der Mittelpunkt des dörflichen Lebens ist. Als ich heute Morgen meinen Schlüssel für das Centro social abgab, genoss schon wieder mindestens ein halbes Dutzend Männer einen Cortado oder Café con leche. Die einzige Frau war die Wirtin. Was irgendwie den Schluss nahelegt, dass die Frauen arbeiten, während die Männer herumlungern…
Aber es gibt natürlich auch Jungs, die harter körperlicher Arbeit nachgehen. Zum Beispiel den alten Mann, der wirklich sein ganzes Leben lang geschuftet hat, erst 40 Jahre als Holzfäller, dann 15 Jahre in der Autofabrik. Jetzt ist er 88 - wie er mir gleich stolz erzählte, als wäre allein das schon eine Leistung, was es ja irgendwie auch ist - und stutzt seine Olivenbäume. Offenbar ohne jegliche Knieprobleme!
2000 kg Oliven hat er im vergangenen Jahr geerntet. Eigentlich hat ja längst sein Sohn übernommen, aber der hat ja eine Prostituta geheiratet, jawohl, die ihm dann weggelaufen ist. Daraufhin hat der alte Mann zu Maria gebetet, dass sie seinem Sohn eine gute, arbeitsame Frau schicken möge, und Maria hat ihn tatsächlich erhört.
Eindeutig der Tag der interessanten Gespräche.
Während ich weiter vor mich hin wanderte, hielt mal wieder ein Auto mit heruntergekurbeltem Fenster an (das passiert häufiger, aber meistens wünschen mir die Fahrer nur einen guten Weg und staunen darüber, dass ich alleine unterwegs bin).
Dieser Fahrer kam schnell zum Wesentlichen: dem Niedergang Spaniens. Ich sei aus Deutschland? Dahin werde er auch gehen, spätestens in drei Jahren, wenn die unfähige Regierung sein Land komplett heruntergewirtschaftet habe. Alles Kommunisten! Meinen vorsichtigen Einwand, dass auch in Deutschland die guten Zeiten vorbei seien und niemand auf seinesgleichen warte, ließ er nicht gelten.
Allein die Mehrwertsteuer! 21 Prozent müsse er zahlen, auf seinen Tabak, sein Feierabendbier, seinen Diesel. Der sei ja übrigens unter Franco noch für die Bauern gratis gewesen. Franco habe ja auch für ein kostenloses Sozialsystem gesorgt und die Stauseen bauen lassen. Dabei sei er ja kein Politiker gewesen, sondern ein sehr verdienstvoller General. Nie habe er ein Todesurteil unterschrieben (darauf ich: Aber dann hat er es seine Leute tun lassen - so viel besser ist das auch nicht!), und überhaupt, er, der Landwirt, hätte Franco lieber gestern als heute wieder zurück. An dieser Stelle hätte ich das Gefühl, dass die Bemerkung „Und Hitler hat ja auch die Autobahnen gebaut“ wenig zielführend sein würde…
Das erste Drittel der Wanderung verlief heute ähnlich wie gestern, also Weinreben in allen Varianten bis zum Abwinken.
Auch heute war nicht ein einziger Fußgänger unterwegs - schade, er oder sie hat Einiges verpasst, übrigens auch den Anblick einer Pilgerin mit Sonnenschirm - eine überaus praktische Zweitverwertung des Regenschirms!
Am frühen Abend langte ich plangemäß in Campillo de Altobuey an.
Dort sollte ich Yolanda anrufen, die mir meine Unterkunft im Sportzentrum zeigen sollte. Das tat sie auch. Oh.
Es war die feuchtkalte Umkleide für Gastmannschaften. Liebevoll ausgestattet mit ein paar uralten Isomatten und muffigen Wolldecken. Aber immerhin mit vier heißen Duschen zur Wahl, also wurde sofort große Wäsche gemacht, während es nebenan in der Sporthalle kreischte und krachte.
Inzwischen hat sich der hoffnungsvolle Sportlernachwuchs von Campillo glücklicherweise verzogen, mein Abendessen ist verzehrt und mein Stadtbummel hat mir das dritte interessante Gespräch des Tages gebracht. Ich wollte nämlich gern noch die Kirche besuchen und begann meine Schlüssel-Schnitzeljagd in einer der vier Bars an der Plaza Mayor.
Hier nicht, aber der Priester habe einen Schlüssel, beschied mir der schiefzähnige, blondierte, gepiercte Barkeeper und griff nach seinem Telefon, um den Cura anzurufen. „Ich bringe die Frau hin“, bot sogleich ein Gast an, und schon nach wenigen Schritten liefen wir fast in den heiligen Mann hinein, der als solcher nicht erkennbar war. Wahrscheinlich wollte er gerade auf eine Copa in die Bar gehen... Stattdessen zeigte er mir eine seiner vier (!) Kirchen: außen 16. Jahrhundert, innen aber leider, wie fast überall, im Stil des 19. Jahrhunderts modernisiert. Also alles gelb gestrichen und mit modernen Möbeln bestückt. Aber des Priesters ganzer Stolz ist die ausgemalte Kuppel, und jede einzelne Marienstatue wurde nur auch noch vorgeführt. Ob ich auch noch eine der anderen Kirchen sehen wolle? Das Augustinerkloster sei leider zu, aber es gebe noch die Kapelle des einstigen Hospitals. Aber klar, doch!
Nun bin ich hoffentlich müde genug, um auf meinem bescheidenen Lager gut zu schlafen. Und wenn nicht, dann schleiche ich mich in die Sporthalle und bette mich auf einer der dicken, fetten Hochsprung-Matten!
6.4.2024
Gerade habe ich heute früh bei dem einen Bäcker von Campillo de Altobuey mein ödes bröckelndes Weißbrot gekauft (mangels Alternativen), da ruft mir hundert Meter weiter vom nächsten Bäcker her ein junges Paar zu - und schenkt mir Wegzehrung. Unfassbar, einfach so. Und diese Madalenas aus dem Holzofen schmecken sogar richtig gut!
Die heutige Etappe nach Monteagudo de las Salinas sollte lang (34 km) und schön sein. Lang war sie - aber leicht zu gehen -; was die Schönheit betrifft, habe ich schon Besseres erlebt. Erst muss man mal wieder 14 km Landstraße laufen, bis zum einzigen Dorf unterwegs, Paracuellos de la Vega.
Immerhin gab es am Wegrand noch sehr spät blühende Mandelbäume!
Wenig einladend von der einen Seite, präsentierte sich Paracuellos oben auf der Kuppe aber als ein nettes Örtchen und wie immer, als ich vor der Kirche Wasser tankte und in der Sonne saß, ergab sich ein kleiner Plausch, diesmal (ganz politikfrei) mit einem Großvater, der seinen Enkelsohn im Kinderwagen spazieren fuhr.
Dann das andere Ende des Dorfes – oh! Wieder einer der vom Pilgerfreund Michael avisierten „Augenöffner“: Jedem Dorf sein Castillo, und oft haben sogar noch die Mauren als Maurer (haha) mit gemischt. Dieses liegt im Tal unter einem steilen Abbruch, aber auf einem eigenen Hügel, annähernd uneinnehmbar, vermutlich.
Die nächsten fast zwanzig Kilometer führt der Weg durch eine Art Hochtal (immer um und bei 1000 hm), mit viel Kiefernwald und dann den längsten Feldern, die ich je gesehen habe.
Das Tagesziel Monteagudo war nach neun Stunden erreicht. Ein warmer, zunehmend windiger Tag unter einem merkwürdig diesig-grauem Himmel. Aber in der vollen Sonne wäre man wahrscheinlich gekocht worden.
Mit der Quartiersuche hatte ich mich diesmal tagelang beschäftigt. Beim Rathaus: niemand zu erreichen. Unter der Privatnummer der Bürgermeisterin: nur der Anrufbeantworter, und sie rief nie zurück. Die Pilgerunterkunft in der Sozialstation angeblich geschlossen. Die einzige Casa rural: ausgebucht.
Schließlich entschied ich, auf gut Glück einfach ins Dorf zu gehen und zu hoffen, dass einer der 230 Einwohner mich schon aufnehmen werde. Und so geschah es:
Nach ein bisschen Herumfragen riet man mir, es in Joaquíns Bar zu versuchen (natürlich wieder ganz zurück, unten am Ortseingang) - wo ich gleich einen neuen Freund fand, Eugenio, den Harz-Zapfer.
Ganz Kavalier, lud er mich zu meiner Milch (Protein- und Kalziumquelle!) ein, während Joaquín überlegte, was er mir anbieten könne. Er habe zwar ein Zimmer, aber da habe gerade noch jemand genächtigt, und es sei nicht hergerichtet...
Mir doch egal, nur immer her damit! Ein bisschen Dreck und bröselnder Putz stören mich nicht, und eine Heizung hat es auch. (Die alten Gemäuer sind auch nach tagelangem Sonnenschein innen die reinsten Eiskeller.) Das Bad darf ich mir mit dem Padrón teilen, der nebenan wohnt, zum Glück aber bis spät abends in seiner Bar bedient.
Im Dorf findet - weithin hörbar an der Musik - eine Party in der Sala de Fiestas statt. Eugenio ist dort natürlich auch mit dem dritten oder fünften oder siebten Bierchen anzutreffen, außerdem die Alcaldesa, die Bürgermeisterin, die sich nie gemeldet hatte. Und nun: lauter Leute, die mich einladen mitzufeiern und fragen, ob ich denn auch eine Unterkunft gefunden hätte.
Und klar, auf der anderen Straßenseite im Centro social könnten Pilger übernachten. Aaaaarrgh!!!
Überraschung: Zurück in Joaquíns Bar fand ich am Tisch einen mageren jungen Mann beim Abendbrot vor: einen Peregrino aus Valencia! Er ist allerdings in einem etwas anderen Stil unterwegs als ich, will morgen bis Cuenca durchlaufen - das dürften gut und gerne 45 km sein. Wer's mag...
Auch für ihn hat der Wirt noch einen Schlafplatz im Dachgeschoss gefunden - und das Ganze gratis, er will für die Übernachtung kein Geld von uns haben! Ich bin, auch wenn ich es schon so oft erlebt habe, immer wieder von neuem überwältigt von der Güte und Großzügigkeit der Menschen. Warum tun sie das? Weil alles Gute wie ein Bumerang zurückkommt, vielleicht.
Joaquín erzählte, er habe früher in Valencia gewohnt, irgendwann aber die Nase voll gehabt von der Großstadt mit ihrem Lärm und Trubel. Jetzt lebe er in Ruhe und Frieden hier auf dem Land und betreibe ganz allein die Bar, in der Saison von morgens um neun bis nachts um ein oder zwei Uhr. Winters öffne er allerdings nur am Wochenende. Er verdiene nicht viel, aber es reiche, und sein Leben sei nun viel mehr nach seinem Geschmack. Das Essen für die Fiesta im Dorf habe er übrigens auch geliefert, Paella für 36 Personen. Er sei kein gelernter Koch, aber das Kochen mache ihm Spaß.
Ich hätte höflichkeitshalber zumindest ein Abendessen bei ihm bestellen sollen, aber da ich nicht wusste, wie ich unterkommen würde, hatte ich gestern noch reichlich eingekauft.
Ab morgen soll es in fast allen Orten Herbergen geben, dafür allerdings nach Cuenca kaum noch Supermärkte. Planen muss man also immer.
7.4.2024
Das Städtchen Fuentes am Abend. Weder hübsch noch hässlich. Alte Männer sitzen auf Bänken am Straßenrand, Kinder toben auf dem Spielplatz, während die Mütter am Zaun den neuesten Klatsch austauschen. Ab und zu donnern ein paar Motorräder die Hauptstraße entlang, dann herrscht wieder Ruhe. Das Handy ist auch hier ein attraktiveres Spielzeug als der Fußball.
Ähnlich ruhig und normal, wie sich Fuentes präsentiert, verlief auch mein Wandertag: 23 km fast völlig einsam durch den lichten Wald. Der allerdings offenbar systematisch abgefackelt wird.
Und dann kam DIE STELLE.
Bekannt aus Pilgerforen und Wegbeschreibungen und mir auch durch den Bericht meiner beiden Vorgänger Michael und Wolfgang. Sie hatten sich abschrecken lassen und mussten 15 km Umweg in Kauf nehmen. Kein Wunder: „privates Jagdgebiet“, „Durchgang verboten“, eine Kamera und der Hinweis auf Bewegungsmelder und Selbstschussanlagen (!) können ja durchaus ein klein wenig einschüchternd wirken.
In Monteagudo hatte man mir aber gesagt, dass es sich um einen öffentlichen Weg handele (mit gelben Pilgerpfeilen allüberall), den man nicht nur begehen dürfe, sondern sogar solle! Offenbar liegt der Grundbesitzer im Clinch mit dem Bürgermeister (ähnlich wie in Bistensee, wo ja deswegen auch ein schöner Wanderweg gesperrt wurde).
Also, los!
Eigentlich war es ein recht hübscher Weg. Aber Ihr werdet es nicht glauben: Als ich fünfzig Meter gegangen war, ertönte von links aus der Ferne ein Schuss.
Da wurde es mir in meiner Jacke auf einmal viel zu warm.
Ein paar Minuten später hinten rechts ebenfalls ein Schuss. Und schließlich noch ein Dritter.
Nicht so richtig angenehm, zumal gerade definitiv keine Jagdsaison ist. Aber dann wurde mir bewusst, dass die Vögel in aller Ruhe weiter sangen UND dass der perverse Grundbesitzer längst im Knast säße, wenn er wirklich auf Wanderer schießen würde.
Der junge valencianische Pilger, der eine Viertelstunde hinter mir unterwegs war, berichtete allerdings von demselben Erlebnis - und auch er sei ein wenig nervös gewesen.
Im Dorf hatte interessanterweise vorher niemand etwas von diesem Herumgeballere erwähnt. Nur ein paar Hunde könnten da oben unterwegs sein, warnte man mich.
Waren sie aber nicht, sondern schön brav hinter Gittern auf der Finca, die ich nach anderthalb Stunden passierte - und wo man mir aus einem Auto freundlich zuwinkte. (Häh?!)
Ich sagte es ja, eigentlich ein Tag ohne besondere Vorkommnisse.
Der restliche Weg hinunter nach Fuentes ist dann wieder von Landwirtschaft geprägt - aber welche Viecherei muss es sein, diesen steinigen Boden zu bestellen! Ob die Wollhändler früher auch hier lang gezogen sind?
Fuentes ist umgeben von Feldern. Ich hatte reichlich Zeit, mich umzuschauen und auf dem Kirchplatz unter einem Baum voller tirillierender Vögel zu sitzen, weil die Herrin über den Herbergsschlüssel, die Señora Rosario im Nachbardorf zum Essen eingeladen war und mir erst nach anderthalb Stunden öffnen konnte.
Später erschien an der Herberge noch ein alter Mann mit einem Stock, der meinen Ausweis stempelte und dankbar eine kleine Geldspende entgegennahm - für jene Pilger, die so arm seien, dass man sie unterstützen müsse, sagte er. Vor hunderten Jahren hat eine reiche Dame eine Stiftung getätigt, die Ermita, ein abgeschlossenes Hospital erbauen lassen und verfügt, dass jeder Bedürftige in Fuentes eine Nacht bleiben und eine Mahlzeit bekommen solle.
Und das gelte bis heute, verriet mir dann noch mein Banknachbar bei meiner letzten abendlichen Dorfrunde, der Besitzer des Tabakladens. Ich solle mir doch mein Gratisessen abholen!
Dass ich weder bedürftig sei noch schnorren wolle, verstand er so gar nicht.
Aber als er mir dann erzählte, wie gern er reisen würde, wenn er nur das Geld hätte, wurde ich ganz demütig. Vielleicht hält er mich wirklich für arm, weil ich zu Fuß gehe!?
bevor ich auf den nächsten Camino aufbreche, möchte ich Euch noch mit einem (Achtung, sehr ausführlichen) Bericht über die Ruta de la lana erfreuen - oder langweilen, je nachdem.
Ich war im letzten Frühjahr von Alicante bis Burgos unterwegs und habe Auszüge aus meinem Tagebuch zusammengestellt.
30.3.2024, Ostersamstag
Der Weg aus einer Großstadt heraus ist nie eine reine Freude. Hier dauerte es zwei Stunden, bis die ganze Gewerbegebiete, Autobahnen und Gleise überwunden waren.
Am Schluss passiert man noch den Zentralfriedhof. Sollte es zu denken geben, dass auch ausgerechnet dort der erste Hinweis auf den Pilgerweg nach Santiago auftaucht?! Später folgte noch eine Variante mit einem niedlichen Pilgerfigürchen. Insgesamt haben die Amigos del Camino de Santiago großartige Arbeit geleistet und alles mit gelben Pfeilen zugekleistert.
Der Camino führt durch eine sehr karge, trockene Landschaft, die aber durchaus ihren Reiz hat - zumindest am ersten Tag. Nach einer Woche könnte die Begeisterung nachlassen. Vor allem, wenn an den Reben, die den zukünftige Vino tinto hervorbringen, bestenfalls ein paar grüne Blättchen zu sehen. Meist sieht man aber nur knorriges Braun auf roter Erde.
Kurz vor Orito wandelt sich das Bild, und der Pilgerweg durchquert einen spannenden Canyon. Auch bei nur 17 Grad im Schatten brachte die Kombination aus Sonne, Rucksack und ständigem Auf und Ab mich durchaus ins Schwitzen. Im August möchte ich hier wirklich nicht unterwegs sein!
Ende März gibt es ja noch nicht viel zu ernten. Eine Apfelsinenplantage am Wegrand war als durchaus eine große Versuchung. Aber meine Beherrschung sollte später noch belohnt werden.
Die Herberge in Novelda, die ich nach acht Stunden und ca. 30 km erreichte - seit dem Nachmittag kräftig durchgepustet und gerade rechtzeitig vor den ersten Regentropfen - ist ein Traum, untergebracht in einem Wohn- und Geschäftshaus an der Hauptstraße, wo niemand eine Herberge vermuten würde. Und tatsächlich ist es eine komplette Wohnung mit drei Schlafzimmern, zwei Bädern und einem Salon mit gefliestem Boden und Stilmöbeln, aber alles bestens ausgestattet von Leuten, die selbst pilgern und deshalb wissen, worauf es ankommt.
Das Gästebuch macht deutlich, dass es ein wirklich wenig frequentierter Pilgerweg ist und zudem kaum jemand aus Deutschland kommt. Aber so richtig echt, „so wie das Pilgern früher mal war“, werde es erst ab Cuenca, stellte mir der freundliche Hospitalero Paco in Aussicht.
Paco machte mir sogar noch ein Geschenk: sechs fette Bio-Orangen aus dem eigenen Garten. Ganz entzückend, aber was dachte sich der Mann nur, was eine Pilgerin mit zwei Kilo Obst anstellen sollte?!
Das verlockende Schaumbad, mit dem ich mich zum Tagesausklang verwöhnen wollte, war leider nur lauwarm – ein zu kleiner Boiler -, aber das buchte ich als Schönheitsfehler ab.
Mit meinen Einkäufen von Aldi (!) und vielen Orangen richtete ich mir noch ein üppiges Abendessen und bereitete für den nächsten Tag auch noch ein paar Ostereier vor: gekochte Eier mit der Kugelschreiber-Aufschrift „rot“, „blau“ und „grün“. Schokoladeneier kennen die Spanier nicht.
Die Osternacht wird hier leider um 24 Uhr gefeiert, eigentlich sehr würdig und stimmungsvoll, aber dafür reichte meine Energie dann doch nicht mehr aus.
Ostersonntag, 31.3.2024
Ich hätte doch zur Osternacht gehen können - lange genug wach war ich allemal: dank der Wasserspülung der Toilette Wand an Wand mit meinem Schlafzimmer: dauerndes Tröpfeln und alle 45 Sekunden kaskadenartiges Rauschen, die pure Marter für müde Menschen. (Die Reaktion des Hospitaleros auf meine SMS am nächsten Tag war relativ lässig: „Ach, ja, da ist wohl etwas defekt“.)
Irgendwann zog ich in das am weitesten entfernte aber leider straßenseitige Schlafzimmer um, nur um zu erleben, dass die gesamte Jugend von Novelda sich offenbar unter meinem Fenster (die typischen einfach verglasten Schiebefenster, die man in so vielen spanischen Häusern findet) zu einem nächtlichen Motorradrennen verabredet hatte. Also drehte ich kurzerhand den Haupthahn ab und bezog wieder Bett A. Danach war die Zeitumstellung auch schon egal...
Es wurde allerdings nun erst gegen halb acht hell, deshalb bekam ich von Novelda City nur einen kleinen Eindruck. Ich scheine allerdings nicht viel verpasst zu haben.
Später wanderte ich stundenlang durch die malerische Flusslandschaft des Rio Viñalopó, vorbei an einer auf einem Berg gelegenen Kirche im Gaudí-Stil - leider, leider auf der falschen Flussseite… Und da sich nun auch der angekündigte Regen einstellte, gab es schier gar keinen Anreiz mehr für eine Besichtigung.
Diesmal hatte ich allerdings einen guten Regenschutz bei mir: einen kleinen aber stabilen Schirm, und ich fragte mich, warum ich bloß nicht vorher auf die Idee gekommen sei, mir solch ein Utensil zuzulegen. Am Ende dieses Tages nichts durchnässt. Allerdings schleppte ich zeitweise wohl an jedem Fuß ein Kilo Matsch mit. Da auch der Rucksack dank der vielen Orangen von Paco und meiner Wochenendeinkäufe bei Aldi tonnenschwer wog, eilte ich nicht ganz so beschwingt voran, nahm mir dafür aber Zeit für Flora und Fauna (Kaninchen und Vögel, eher unspektakulär) und schulte meine Sinne: was höre ich, was rieche ich?
Dummerweise gab es wegen der Nässe partout keine Gelegenheit zu rasten (vielleicht hätte ich doch in der Röhre den Regen aussitzen sollen), und so stürzte ich mich nach viereinhalb Stunden dankbar auf ein bescheidene Plätzchen unter einer Autobahnbrücke: einen niedrigen Markierungsstein.
Und endlich gab es auch Essen und Trinken! Wenn es dauernd regnet, vermeidet man tunlichst eine zu volle Blase...
Als für eine Stunde sogar mal die Sonne herauskam, entfaltete die Landschaft plötzlich ihren ganzen Zauber.
Doch das Glück hielt nicht lange an, und so verwarf ich schnell wieder den Plan, noch zehn Kilometer weiter bis Villena zu laufen. In Sax – einer kleinen Stadt mit feiertäglich hochgeklappten Bürgersteige - steuerte ich auf der Suche nach einem Stempel die erstbeste Bar an - und fand innen alles voll mit schmausenden Familien. Am Tresen lungerten die üblichen einzelnen Männer herum und knabberten Oliven zu ihrem Bier, also kaufte ich mir eine Flasche Wasser und gesellte mich dazu, während der Wirt den Stempel suchte.
Und, interessierte sich jemand für die fremde Blondine mit dem Rucksack, die einen Hauch von Abenteuer aus der großen weiten Welt in diese lärmende Kneipe mitbrachte?! Nadie. Niemand. Ich war fast ein bisschen beleidigt und machte mich direkt auf zum Bahnhof.
Vom Feinsten: ein kleiner Warteraum mit Stühlen, einem Fahrkartenautomaten und einer sauberen Toilette. Kein Problem also, hier eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges warm und trocken zu sitzen, während draußen der Regen plätscherte.
Eine weitere Stunde Aufenthalt hatte ich in Villena, das mit seinem Kulturerbe wirbt. Und tatsächlich, selbst unter grauem Himmel bewies die Stadt deutlich mehr Charme als alle anderen, die ich bisher durchquert hatte.
Sogar ein Theater und ein Konservatorium hat Villena, keinem Geringeren als dem Zarzuela-Komponisten Ruperto Chapí gewidmet.
Auf der Weiterfahrt nach Almansa konnte ich mir erneut zu meiner Idee gratulieren, schon gleich zu Beginn die zwei in meinem Zeitplan fehlenden Tage einzusparen: die Etappe verläuft ewig lange parallel zur Autobahn oder der Eisenbahn, und alles drumherum ist nur platt und braun. Und derzeit auch noch matschig. Nein, danke!
Almansa erreichte ich am frühen Abend - bei 8 Grad, wie mir sie das Thermometer an einer Apotheke anzeigte!
Die Pilgerherberge wird von den Religiosas esclavas de María (jawohl, Sklavinnen, nicht nur Dienerinnen!) betrieben. Das unauffällige Wohnhaus beherbergt jedoch keinen Konvent, wie mir eine gestrenge Dame bei der Anmeldung am Telefon mitgeteilt hatte, sondern eine Residencia de monjas. Immerhin also Nonnen, und so freute ich mich auf Gastfreundschaft, ein paar interessante Gespräche und vielleicht die Möglichkeit, an einem der Stundengebete teilzunehmen. Pero nada! Ich bekam den Stempel in meinen Credencial, zahlte rührend bescheidene sieben Euro und wurde in mein Zimmerchen geschickt, mit der Aufforderung, am nächsten Tag vor meinem Weggang kurz zu klingeln und „die Peregrina“ zu rufen.
Auch recht. Mit Körper- und Kleidungspflege, reichlichem Essen (bis zum nächsten Tag musste der Rucksack leichter werden) und ein bisschen digitaler Kommunikation ging der Abend ruckzuck vorbei.
Auch heute waren keine anderen Pilger weit und breit zu erspähen. Unterwegs trifft man - das kenne ich von anderen Wegen - fast nur Hundegassiführer und Fahrradfahrer, die freundlich „Buen camino“ wünschen.
Ein Mann sprach mich an: ob ich auf dem Camino de Santiago unterwegs sei? Er sei auch schon zwei Etappen von der Ruta de la Lana gelaufen und wolle sich stückweise voran arbeiten.
Ja, nicht alle genießen den Luxus, vier Wochen Urlaub nehmen zu können, ich weiß es und bin dankbar dafür.
1.4.2024, Ostermontag
Schönstes Wetter war vorhergesagt, morgens noch kalt, aber im Laufe des Tages sonnig und bis zu 17 Grad. Entsprechend packte ich also auch meinen Rucksack, und entsprechend frohgemut verließ ich die triste Nonnenresidenz - ohne Abschied, weil ich aus dem oberen Stockwerk gemurmelte Gebete hörte.
Der Auszug aus Almansa kurz nach Sonnenaufgang war noch vielversprechend. Völlig ungeplant zog sich aber der Himmel nach kurzer Zeit über der Sierra de Mugrón wieder zu, und von da an wurde es fies kalt, weil eine mehr als steife Brise wehte. Aber ganz egal, denn das ständig wechselnde Licht und das Farbenspiel entzückten mich über Stunden hinweg.
Die vielen wilden Tiere, die man hier beobachten können soll, erspähte ich leider nicht. Dafür aber, als ich hinter der Hügelkuppe nach einem geschützten Platz für eine Rast Ausschau hielt, auf einem Pfad zehn Meter links von mir einen anderen Menschen. Mit Rucksack! Da es mir auf meinen Caminos schon einige Male passiert ist, dürfte es mich eigentlich nicht mehr so sehr überraschen, und gerade heute Morgen hatte ich eine kleine Botschaft gen Himmel gesandt: „Halte mich bitte nicht für undankbar, alles ist prima, und mir geht's gut. Aber so ein klitzekleines bisschen Gesellschaft wäre jetzt doch mal nett...“
Et voilà.
„Hola“, schrie ich gegen den Wind, „peregrino?“ „Sí“, ertönte es zurück. „Eres Christiane?“
Mein Ruf war mir nicht etwa vorausgeeilt - der französische Kollege hatte ebenfalls bei den Sklavinnen in Almansa übernachtet und meinen Namen im Gästebuch gesehen. Wir freuten uns beide sehr über ein bisschen Gesellschaft, auch wenn sich herausstellte, dass sich unsere Wege bald schon wieder trennen würden, weil Gilles auf dem Camino de Sureste pilgert.
Wir liefen also zusammen nach Alpera und unterhielten uns großartig - er übrigens in einem exzellenten Englisch, das er vierzig Jahre am Lycée unterrichtet hatte. Ich habe noch nie einen Franzosen ein so schönes und vor allem idiomatisches Englisch sprechen hören - und dabei eine Menge Vokabeln und Floskeln gelernt.
Alpera empfing uns nach sechs Stunden und 23 km freundlich, aber leider hatte das Ayuntamiento eine Viertelstunde zuvor zugemacht. Bei der Polizei, die angeblich auch einen Herbergsschlüssel verwahrt, hatte ich den ganzen Morgen vergeblich angerufen - und vor Ort las ich dann staunend, dass sie nur dienstags von 11.45 bis 13.45 Uhr geöffnet habe. Außerhalb dieser Zeiten also bitte keine Verbrechen begehen, liebe Alperos!
Also liefen wir auf gut Glück zur Herberge - vielleicht würde ja ein Zettel mit einer Telefonnummer an der Tür hängen, aber nichts dergleichen. Weitere Mobiltelefonnummern von unserer beider Listen hatten sich auch schon als nutzlos erwiesen. Aber als wir ratlos auf der Straße standen, winkte uns eine Frau zu: den Schlüssel gebe es im Altersheim-!
Auf die Idee muss man wirklich erst mal kommen, aber der Vorteil besteht darin, dass dort rund um die Uhr Personal anwesend ist. Und so wurden wir auch nett empfangen, zahlten sieben Euro, bekamen unsere Stempel und, hurra, den Schlüssel.
Weniger hurra die Herberge selbst. Sie bietet zwar fünfzehn Schlafplätze in zwei Zimmern (hier?!), aber keine Küche, keine Einmalbettwäsche und keine Wärme, denn alle Thermostate waren von den Heizkörpern abgeklemmt worden. Tütenweise Müll und zerwühlte Betten deuteten darauf hin, dass hier länger keiner mehr aufgeräumt hatte, also fingen wir damit erst mal an.
Während Gilles dann Siesta hielt, ging ich Alpera erkunden, auch in der Annahme, es sei draußen wärmer als drinnen und ich würde sicher irgendwo einen Platz in der Sonne finden.
Heute jedoch nicht. Das kleine Städtchen ist durchaus sympathisch, aber - zumindest an diesem Nachmittag - winddurchtost und bitterkalt. Außerdem fast menschenleer; und alle Sehenswürdigkeiten waren geschlossen, die Kirchen natürlich auch.
ABER - und damit war unser Abend gerettet - um 17 Uhr öffnete nach der laaangen Mittagspause ein gut sortierter Supermarkt. Und so konnten wir dann gemeinsam höchst stilvoll im schäbigen „Salon“ Cuisine Française genießen: Mikrowellenmenüs, Tütensalat, Obst und Joghurt.
Anschließend blieb nicht mehr zu tun, als in die relative Wärme der Betten zu fliehen. Ohne vorherige Dusche - die Aussicht, sich entkleiden zu müssen, war alles andere als angenehm. Aber Sauberkeit wird ohnehin völlig überbewertet.
2.4.2024
Morgens um kurz vor acht musste ich mich von dem netten Gilles verabschieden. Er hatte eine schlechte, kalte Nacht verbracht, während es mir in meinem Kokon aus Schlafsack, Kapuze und Wolldecken so gut ergangen war wie in den letzten Tagen noch nie. Und es wurde noch besser: Der nette Bäcker in Alpera schenkte mir mein (ödes) Weißbrot - und noch einen Beutel Kürbisküchlein dazu, weil man Pilger ja unterstützen müsse.
Überhaupt war es ein traumschöner Morgen, mit einem weiten Blick über die stadtnahen Gärten, Vogelgezwitscher und flachem, goldenen Licht - allerdings bei nur drei Grad, und ich war dankbar über die Handschuhe, die ich für alle Fälle eingepackt hatte. Und überhaupt dankbar für alles Mögliche, so dass ich doch tatsächlich in schöner chromatischer Folge mehrere Strophen von „Danke für diesen guten Morgen“ schmetterte-!
Längere Zeit verlief der Pilgerweg parallel zur „Ruta de los Molinos“, dem Mühlenweg. Aber sehr viel mehr als ein paar verfallene Gebäude ist hier nicht zu sehen, dafür aber jede Menge alter, teils schon eingestürzter Bewässerungssysteme.
Ausgedehnte Waldgebiete wechselten sich ab mit landwirtschaftlich genutzten Flächen. Da das Getreide inzwischen ein paar Zentimeter hoch war, hatte die braune Erde eine grüne Decke bekommen. Die Weinstöcke dagegen würden wohl noch ein paar Wochen brauchen.
Unterwegs traf ich buchstäblich niemanden, und selbst auf den vereinzelten Gehöften zeigten sich kaum Menschen. Dafür umso mehr Hunde, die aber bis auf einen nur hinter Zäunen und Mauern herumtobten. Dieser eine näherte sich mir erst ganz freundlich, vielleicht weil Herrchen mit einem Kleinkind im Arm daneben stand. Dann fing er aber an durchzudrehen, während der Besitzer ewig lange schwächlich „Vanda, no!“ flehte - bis er dann endlich auf die Idee kam, seine geifernde Töle anzuleinen, und sich mehrmals entschuldigte.
Weil ich wenig Lust hatte, wieder ab dem Nachmittag in einer kalten Herberge zu hocken, ließ ich mir viel Zeit und saß, nachdem es bald wärmer geworden war, genüsslich in der Sonne, lauschte den brummenden Insekten und den gurrenden Tauben oder schmökerte eine Runde in meinem Roman (natürlich nur in digitaler Form, d.h. auf dem Telefon). Erst gegen halb vier stieg ich zurück ins Tal, verließ damit das Funkloch und konnte mich telefonisch bei Pedro Antonio von den hiesigen Amigos del Camino de Santiago melden.
Eine halbe Stunde später erreichte ich Alatoz, ein beschauliches Städtchen mit 500 Einwohnern.
Pedro Antonio lud mich erst auf ein Getränk in die Bar ein, bereitete mich auf die kommenden Etappen und deren (nicht so tolle) Herbergssituation vor und begleitete mich dann zum Stolz der Amigos: der 2018 eingerichteten Albergue von Alatoz.
Sie ist ein Büdchen an der Seite einer riesigen Sporthalle, mit der man sich auch die sanitären Installationen teilt. Eine Küche gibt's nicht, aber eine Klimaanlage, die köstliche Wärme verbreitet! Und während sich der Raum aufheizte, trug ich mir einen Stuhl draußen in die Sonne und ging später noch auf Dorferkundung. Da gibt es eigentlich nicht viel zu erkunden, aber immerhin eine Kirche aus dem 18. Jahrhundert, die selbstverständlich verschlossen war. Der Schlüssel - das hätte ich mir ja wohl denken können! - wird in der Fleischerei aufbewahrt.
Ausgerechnet an diesem Tag war er allerdings unterwegs, und so kam ich mit dem Inhaber des kleinen Ladens ins Gespräch, nachdem er herumtelefoniert und die Rückgabe des Schlüssels eingefordert hatte. Ich bekam dann sogar eine persönliche Führung: „Was kannst du mir denn über die Kirche erzählen?“ - „Dass sie schön ist!“ Gelächter. (Das fand ich übrigens weniger). Im Gegenzug konnte ich mit der Geschichte von Faustyna auftrumpfen, denn auch hier hängt ihr Jesus-Bild, wenn auch nicht das „richtige“, also originale.
Zwischendurch wurde Matías immer mal wieder in seinen Laden gerufen, weil jemand Baguette oder eine Dose Tomaten kaufen wollte. Aber derlei sei nur Beiwerk, erzählte er mir, eigentlich kämen die Käufer wegen seines Fleisches: Top-Qualität, er schlachte selbst, und jeder wisse genau, was er hier bekomme. Er habe den Laden von seinem Schwiegervater übernommen und betreibe ihn jetzt schon seit dreißig Jahren. Schön und gut, und ich hätte ja auch gern etwas gekauft, aber ohne Küche...
Wir quatschten sicher eine halbe Stunde lang und verabredeten, das sogar noch fortsetzen. Lustigerweise hatte Matías nämlich am Folgetag in meinem nächsten Zielort zu tun, in Casas Ibáñez, und wenn es sich zeitlich ausginge, würden wir abends „una copa“ zusammen nehmen.
Eine Nachricht im Signal-Chat: Meine beiden deutschen Kollegen aus dem Pilgerforum, Wolfgang und Michael, die mir zwei Wochen voraus sind, stehen kurz vor dem Aufgeben, weil sie kein Spanisch können, dadurch nicht an wichtige Informationen (und Herbergsschlüssel) kommen und zudem unter Kälte, Wind und Regen leiden.
Was hab ich bisher ein Glück!
3.4.2024
32 km von Alatoz nach Casas Ibáñez, eigentlich keine große Sache, weil die Strecke überwiegend eben ist. Aber aus unerfindlichen Gründen kam ich heute kaum voran: mal drückte ein Schuh am Spann, dann wurde die Schnürung gelockert - nein, das war jetzt zu viel usw. Dann saß der Beckengurt irgendwie nicht richtig, oder der Verschluss der Bauchtasche drückte. Alles banaler Kleinkram, den ich eigentlich erst vom fünften Wandertag kenne.
Außerdem verbrachte ich viel Zeit mit Telefonieren. Gleich morgens rief der Amigo Pedro Antonio an, um zu hören, ob alles gut gegangen sei, und um mich noch mit weiteren Hinweisen für die nächsten Tage zu versorgen. Bis Fuentes gebe es keine Herbergen oder Acogidas municipales mehr, hatte er mir am Vorabend schon gesagt, aber die Amigos seien am Thema dran. Man kann sich tatsächlich stundenlang durch diverse Dienststellen telefonieren - für Casas Ibáñez gab ich irgendwann auf und reservierte ein Zimmer in einem Hostal; für Villarta am nächsten Tag gelang es mir tatsächlich, in Erfahrung zu bringen, in welcher Bar der Schlüssel für das Centro social verwahrt wird.
Aber vor allem wurde ich vom Fotografieren aufgehalten! Wieder so ein Tag, an dem sich die Szenerie dauernd veränderte - morgens bedeckter Himmel, später ein Mix aus Sonne und Wolken, nachmittags Sommer pur -, und ich musste immer wieder warten, bis das optimale Licht für Konturen und Farben sorgte. Leider sieht das, was ich auf der Speicherkarte habe, nur halb oder gar ein Viertel so schön aus wie das Erlebte!
Oliven, Pistazien und Mandeln werden neben Getreide hauptsächlich in dieser Gegend angebaut.
Lerchen glaubte ich gehört zu haben, Eidechsen flitzten auf warmen Steinen umher, und die ersten Schmetterlinge sah man auch schon. Leider immer noch keine Wildschweine, Mufflons, Bergziegen und was es hier noch so alles geben soll.
Am Ortsausgang des Dorfs Casas del Cerro bot sich mir dann ein atemberaubender Blick auf Alcalá de Júcar, auf einem Felsrücken hoch oberhalb des Flusses Júcar gelegen, der hier einen mäandernden Lauf im Talgrund nimmt.
Natürlich musste ich ganz runter zum Fluss absteigen und dann auf der Gegenseite alles wieder hoch kraxeln. Dafür, dass die Anlage zum Welterbe gehört, war sie erstaunlich wenig besucht. Aber die Zahl der Casas rurales, die man mieten kann, spricht für sich.
Meine Mittagspause genoss ich auf dem Platz vor der Burg, dann ging es weiter nach Casas Ibáñez: drei Stunden lang geradeaus durch pfannekuchenplatte Landschaft.
Und endlich, nach vier Tagen Woll-Weg, die erste Schafherde!
Mit einem Hirten, der nur noch einen Zahn besitzt, tagelang auf einem Steinhaufen hockt und aus einem Transistorradio Musik hört. Aber plaudern konnte und wollte er!
Die reizarmen drei Stunden wurden strammen Schrittes durchmessen, natürlich auch um rechtzeitig um 18 Uhr vor dem Hostal Matías aus Alatoz zu treffen!
Er war pünktlich, ich hatte gerade noch Zeit für einen Dusche, dann tranken wir unten in der Cafeteria ein Glas zusammen. Klar, dass der Caballero bezahlt – das scheint hier noch üblich zu sein.
Damit nicht genug, wurde ich von Matías auch noch zu einer Spritztour zu einem weiteren spektakulären Flusstal eingeladen, das ich morgen zu Fuß nicht durchqueren würde, wie er ankündigte. Eine riesige Waldfläche tat sich von oben auf, fast wie in Bolivien der Blick rüber in den brasilianischen Urwald. Na gut, wirklich nur fast, aber trotzdem war es eindrucksvoll und schön im Abendlicht. Leider konnte ich kein Foto machen, weil das Handy währenddessen seine dringend nötige Aufladung bekam, und die Kamera im Hotelzimmer lag.
Auf dem Rückweg ließ ich mich bei Mercadona absetzen und verfiel dann mal wieder dem Kauftausch mit anschließender Orgie im Hostal. Herrlich!
Meine beiden Compañeros auf der Ruta de la Lana, Wolfgang und Michael, hatten inzwischen auch ihr Tief überwunden und endlich besseres Wetter. Bis Samstag sollten die Temperaturen noch täglich weiter steigen. Heute waren es nur maximal 17 Grad, aber in der Sonne fühlte es sich schon fast wie Sommer an. (Nur dass man den in diesen Breiten lieber meiden sollte.)
4.4.2024
Auf die Dauer könne der Weg etwas eintönig werden: ganz eben, immer in der Nähe der Landstraße und geprägt von Getreidefeldern und Wein, das hatte mein Führer für die heutige Etappe von Casas Ibáñez nach Villarta angekündigt. Und das 27 km lang ohne Schatten. Nun ja.
Der Camino verläuft immer in der Nähe der Straße. Der Höhepunkt des Vormittags: ein Wechsel auf die andere Straßenseite.
Immerhin: kein Verkehrslärm. Und wenn die Umgebung reizarm ist, muss man sich seine Reize eben selbst suchen.
Wein in allen Variationen, zum Beispiel. Wer käme auf die Idee, dass diesen knorrigen Strünken eine so süffige Flüssigkeit zu verdanken sein würde?!
Nach vier Stunden - ja, ja, mit Hörbuch statt Reflexionen über das Leben im Allgemeinen und im Besonderen, ich gebe es zu -, nach vier Stunden also erreichte ich das Landstädtchen Villamalea. Nicht viel los hier.
Also ließ ich mich erst mal im Stadtpark nieder und guckte mir die wenigen Leute an: ein Mütterchen mit Gehwagen, einen alten Mann, der minutenlang jeden Baum betrachtete, und die üblichen Hundegassiführer.
Beim weiteren Bummel durch den Ort merkte ich, dass heute Markttag war. Wie gern hätte ich bei den üppig gefüllten Obst- und Gemüseständen zugeschlagen, aber es wäre wirklich idiotisch gewesen.
Und dann die nächsten Stunden durch eine sich wenig verändernde Landschaft und mit einer nicht immer ganz einfachen Suche nach dem richtigen Weg. Niemand sonst war unterwegs, mit Ausnahme von ein paar Weinbauern, die ihre Reben beschnitten und festbanden.
El Herrumblar, ein Dorf, das von Edward Hopper gemalt sein könnte.
Gegen Ende des Wandertages kam wieder die Sierra in Sicht.
Und schließlich Villarta, eine kleine Stadt, die vom Weinbau lebt und einen mehrfach prämierten Tropfen produziert.
Hier hatte ich mir eine Unterkunft im Centro social organisiert. Den Schlüssel dafür gab es jenseits der Öffnungszeiten des Rathauses in einer Bar (wie unoriginell!), wo am Spätnachmittag die üblichen alten Männer am Tresen hockten.
Die Unterkunft ist recht profan, trotz der sommerlichen Wärme auch einigermaßen frostig, aber La Alcaldesa, die Bürgermeisterin (grauer Kurzhaarschnitt, leuchtende helle Augen, Basecap) hatte mir Kissen, Decken und sogar Bettbezug und Handtücher bereitlegen lassen und fand das, als ich, um mich zu bedanken, an den Bar-Tisch trat, wo sie mit anderen Frauen quatschte, völlig selbstverständlich.
Nach einem Abendspaziergang durch den Ort setzte ich mich vor der Kirche in die letzte Sonne, während um mich herum Kinder auf Fahrrädern ihre Kreise zogen.
5.4.2024
Interessant zu beobachten, wie die Bar hier wirklich der Mittelpunkt des dörflichen Lebens ist. Als ich heute Morgen meinen Schlüssel für das Centro social abgab, genoss schon wieder mindestens ein halbes Dutzend Männer einen Cortado oder Café con leche. Die einzige Frau war die Wirtin. Was irgendwie den Schluss nahelegt, dass die Frauen arbeiten, während die Männer herumlungern…
Aber es gibt natürlich auch Jungs, die harter körperlicher Arbeit nachgehen. Zum Beispiel den alten Mann, der wirklich sein ganzes Leben lang geschuftet hat, erst 40 Jahre als Holzfäller, dann 15 Jahre in der Autofabrik. Jetzt ist er 88 - wie er mir gleich stolz erzählte, als wäre allein das schon eine Leistung, was es ja irgendwie auch ist - und stutzt seine Olivenbäume. Offenbar ohne jegliche Knieprobleme!
2000 kg Oliven hat er im vergangenen Jahr geerntet. Eigentlich hat ja längst sein Sohn übernommen, aber der hat ja eine Prostituta geheiratet, jawohl, die ihm dann weggelaufen ist. Daraufhin hat der alte Mann zu Maria gebetet, dass sie seinem Sohn eine gute, arbeitsame Frau schicken möge, und Maria hat ihn tatsächlich erhört.
Eindeutig der Tag der interessanten Gespräche.
Während ich weiter vor mich hin wanderte, hielt mal wieder ein Auto mit heruntergekurbeltem Fenster an (das passiert häufiger, aber meistens wünschen mir die Fahrer nur einen guten Weg und staunen darüber, dass ich alleine unterwegs bin).
Dieser Fahrer kam schnell zum Wesentlichen: dem Niedergang Spaniens. Ich sei aus Deutschland? Dahin werde er auch gehen, spätestens in drei Jahren, wenn die unfähige Regierung sein Land komplett heruntergewirtschaftet habe. Alles Kommunisten! Meinen vorsichtigen Einwand, dass auch in Deutschland die guten Zeiten vorbei seien und niemand auf seinesgleichen warte, ließ er nicht gelten.
Allein die Mehrwertsteuer! 21 Prozent müsse er zahlen, auf seinen Tabak, sein Feierabendbier, seinen Diesel. Der sei ja übrigens unter Franco noch für die Bauern gratis gewesen. Franco habe ja auch für ein kostenloses Sozialsystem gesorgt und die Stauseen bauen lassen. Dabei sei er ja kein Politiker gewesen, sondern ein sehr verdienstvoller General. Nie habe er ein Todesurteil unterschrieben (darauf ich: Aber dann hat er es seine Leute tun lassen - so viel besser ist das auch nicht!), und überhaupt, er, der Landwirt, hätte Franco lieber gestern als heute wieder zurück. An dieser Stelle hätte ich das Gefühl, dass die Bemerkung „Und Hitler hat ja auch die Autobahnen gebaut“ wenig zielführend sein würde…
Das erste Drittel der Wanderung verlief heute ähnlich wie gestern, also Weinreben in allen Varianten bis zum Abwinken.
Auch heute war nicht ein einziger Fußgänger unterwegs - schade, er oder sie hat Einiges verpasst, übrigens auch den Anblick einer Pilgerin mit Sonnenschirm - eine überaus praktische Zweitverwertung des Regenschirms!
Am frühen Abend langte ich plangemäß in Campillo de Altobuey an.
Dort sollte ich Yolanda anrufen, die mir meine Unterkunft im Sportzentrum zeigen sollte. Das tat sie auch. Oh.
Es war die feuchtkalte Umkleide für Gastmannschaften. Liebevoll ausgestattet mit ein paar uralten Isomatten und muffigen Wolldecken. Aber immerhin mit vier heißen Duschen zur Wahl, also wurde sofort große Wäsche gemacht, während es nebenan in der Sporthalle kreischte und krachte.
Inzwischen hat sich der hoffnungsvolle Sportlernachwuchs von Campillo glücklicherweise verzogen, mein Abendessen ist verzehrt und mein Stadtbummel hat mir das dritte interessante Gespräch des Tages gebracht. Ich wollte nämlich gern noch die Kirche besuchen und begann meine Schlüssel-Schnitzeljagd in einer der vier Bars an der Plaza Mayor.
Hier nicht, aber der Priester habe einen Schlüssel, beschied mir der schiefzähnige, blondierte, gepiercte Barkeeper und griff nach seinem Telefon, um den Cura anzurufen. „Ich bringe die Frau hin“, bot sogleich ein Gast an, und schon nach wenigen Schritten liefen wir fast in den heiligen Mann hinein, der als solcher nicht erkennbar war. Wahrscheinlich wollte er gerade auf eine Copa in die Bar gehen... Stattdessen zeigte er mir eine seiner vier (!) Kirchen: außen 16. Jahrhundert, innen aber leider, wie fast überall, im Stil des 19. Jahrhunderts modernisiert. Also alles gelb gestrichen und mit modernen Möbeln bestückt. Aber des Priesters ganzer Stolz ist die ausgemalte Kuppel, und jede einzelne Marienstatue wurde nur auch noch vorgeführt. Ob ich auch noch eine der anderen Kirchen sehen wolle? Das Augustinerkloster sei leider zu, aber es gebe noch die Kapelle des einstigen Hospitals. Aber klar, doch!
Nun bin ich hoffentlich müde genug, um auf meinem bescheidenen Lager gut zu schlafen. Und wenn nicht, dann schleiche ich mich in die Sporthalle und bette mich auf einer der dicken, fetten Hochsprung-Matten!
6.4.2024
Gerade habe ich heute früh bei dem einen Bäcker von Campillo de Altobuey mein ödes bröckelndes Weißbrot gekauft (mangels Alternativen), da ruft mir hundert Meter weiter vom nächsten Bäcker her ein junges Paar zu - und schenkt mir Wegzehrung. Unfassbar, einfach so. Und diese Madalenas aus dem Holzofen schmecken sogar richtig gut!
Die heutige Etappe nach Monteagudo de las Salinas sollte lang (34 km) und schön sein. Lang war sie - aber leicht zu gehen -; was die Schönheit betrifft, habe ich schon Besseres erlebt. Erst muss man mal wieder 14 km Landstraße laufen, bis zum einzigen Dorf unterwegs, Paracuellos de la Vega.
Immerhin gab es am Wegrand noch sehr spät blühende Mandelbäume!
Wenig einladend von der einen Seite, präsentierte sich Paracuellos oben auf der Kuppe aber als ein nettes Örtchen und wie immer, als ich vor der Kirche Wasser tankte und in der Sonne saß, ergab sich ein kleiner Plausch, diesmal (ganz politikfrei) mit einem Großvater, der seinen Enkelsohn im Kinderwagen spazieren fuhr.
Dann das andere Ende des Dorfes – oh! Wieder einer der vom Pilgerfreund Michael avisierten „Augenöffner“: Jedem Dorf sein Castillo, und oft haben sogar noch die Mauren als Maurer (haha) mit gemischt. Dieses liegt im Tal unter einem steilen Abbruch, aber auf einem eigenen Hügel, annähernd uneinnehmbar, vermutlich.
Die nächsten fast zwanzig Kilometer führt der Weg durch eine Art Hochtal (immer um und bei 1000 hm), mit viel Kiefernwald und dann den längsten Feldern, die ich je gesehen habe.
Das Tagesziel Monteagudo war nach neun Stunden erreicht. Ein warmer, zunehmend windiger Tag unter einem merkwürdig diesig-grauem Himmel. Aber in der vollen Sonne wäre man wahrscheinlich gekocht worden.
Mit der Quartiersuche hatte ich mich diesmal tagelang beschäftigt. Beim Rathaus: niemand zu erreichen. Unter der Privatnummer der Bürgermeisterin: nur der Anrufbeantworter, und sie rief nie zurück. Die Pilgerunterkunft in der Sozialstation angeblich geschlossen. Die einzige Casa rural: ausgebucht.
Schließlich entschied ich, auf gut Glück einfach ins Dorf zu gehen und zu hoffen, dass einer der 230 Einwohner mich schon aufnehmen werde. Und so geschah es:
Nach ein bisschen Herumfragen riet man mir, es in Joaquíns Bar zu versuchen (natürlich wieder ganz zurück, unten am Ortseingang) - wo ich gleich einen neuen Freund fand, Eugenio, den Harz-Zapfer.
Ganz Kavalier, lud er mich zu meiner Milch (Protein- und Kalziumquelle!) ein, während Joaquín überlegte, was er mir anbieten könne. Er habe zwar ein Zimmer, aber da habe gerade noch jemand genächtigt, und es sei nicht hergerichtet...
Mir doch egal, nur immer her damit! Ein bisschen Dreck und bröselnder Putz stören mich nicht, und eine Heizung hat es auch. (Die alten Gemäuer sind auch nach tagelangem Sonnenschein innen die reinsten Eiskeller.) Das Bad darf ich mir mit dem Padrón teilen, der nebenan wohnt, zum Glück aber bis spät abends in seiner Bar bedient.
Im Dorf findet - weithin hörbar an der Musik - eine Party in der Sala de Fiestas statt. Eugenio ist dort natürlich auch mit dem dritten oder fünften oder siebten Bierchen anzutreffen, außerdem die Alcaldesa, die Bürgermeisterin, die sich nie gemeldet hatte. Und nun: lauter Leute, die mich einladen mitzufeiern und fragen, ob ich denn auch eine Unterkunft gefunden hätte.
Und klar, auf der anderen Straßenseite im Centro social könnten Pilger übernachten. Aaaaarrgh!!!
Überraschung: Zurück in Joaquíns Bar fand ich am Tisch einen mageren jungen Mann beim Abendbrot vor: einen Peregrino aus Valencia! Er ist allerdings in einem etwas anderen Stil unterwegs als ich, will morgen bis Cuenca durchlaufen - das dürften gut und gerne 45 km sein. Wer's mag...
Auch für ihn hat der Wirt noch einen Schlafplatz im Dachgeschoss gefunden - und das Ganze gratis, er will für die Übernachtung kein Geld von uns haben! Ich bin, auch wenn ich es schon so oft erlebt habe, immer wieder von neuem überwältigt von der Güte und Großzügigkeit der Menschen. Warum tun sie das? Weil alles Gute wie ein Bumerang zurückkommt, vielleicht.
Joaquín erzählte, er habe früher in Valencia gewohnt, irgendwann aber die Nase voll gehabt von der Großstadt mit ihrem Lärm und Trubel. Jetzt lebe er in Ruhe und Frieden hier auf dem Land und betreibe ganz allein die Bar, in der Saison von morgens um neun bis nachts um ein oder zwei Uhr. Winters öffne er allerdings nur am Wochenende. Er verdiene nicht viel, aber es reiche, und sein Leben sei nun viel mehr nach seinem Geschmack. Das Essen für die Fiesta im Dorf habe er übrigens auch geliefert, Paella für 36 Personen. Er sei kein gelernter Koch, aber das Kochen mache ihm Spaß.
Ich hätte höflichkeitshalber zumindest ein Abendessen bei ihm bestellen sollen, aber da ich nicht wusste, wie ich unterkommen würde, hatte ich gestern noch reichlich eingekauft.
Ab morgen soll es in fast allen Orten Herbergen geben, dafür allerdings nach Cuenca kaum noch Supermärkte. Planen muss man also immer.
7.4.2024
Das Städtchen Fuentes am Abend. Weder hübsch noch hässlich. Alte Männer sitzen auf Bänken am Straßenrand, Kinder toben auf dem Spielplatz, während die Mütter am Zaun den neuesten Klatsch austauschen. Ab und zu donnern ein paar Motorräder die Hauptstraße entlang, dann herrscht wieder Ruhe. Das Handy ist auch hier ein attraktiveres Spielzeug als der Fußball.
Ähnlich ruhig und normal, wie sich Fuentes präsentiert, verlief auch mein Wandertag: 23 km fast völlig einsam durch den lichten Wald. Der allerdings offenbar systematisch abgefackelt wird.
Und dann kam DIE STELLE.
Bekannt aus Pilgerforen und Wegbeschreibungen und mir auch durch den Bericht meiner beiden Vorgänger Michael und Wolfgang. Sie hatten sich abschrecken lassen und mussten 15 km Umweg in Kauf nehmen. Kein Wunder: „privates Jagdgebiet“, „Durchgang verboten“, eine Kamera und der Hinweis auf Bewegungsmelder und Selbstschussanlagen (!) können ja durchaus ein klein wenig einschüchternd wirken.
In Monteagudo hatte man mir aber gesagt, dass es sich um einen öffentlichen Weg handele (mit gelben Pilgerpfeilen allüberall), den man nicht nur begehen dürfe, sondern sogar solle! Offenbar liegt der Grundbesitzer im Clinch mit dem Bürgermeister (ähnlich wie in Bistensee, wo ja deswegen auch ein schöner Wanderweg gesperrt wurde).
Also, los!
Eigentlich war es ein recht hübscher Weg. Aber Ihr werdet es nicht glauben: Als ich fünfzig Meter gegangen war, ertönte von links aus der Ferne ein Schuss.
Da wurde es mir in meiner Jacke auf einmal viel zu warm.
Ein paar Minuten später hinten rechts ebenfalls ein Schuss. Und schließlich noch ein Dritter.
Nicht so richtig angenehm, zumal gerade definitiv keine Jagdsaison ist. Aber dann wurde mir bewusst, dass die Vögel in aller Ruhe weiter sangen UND dass der perverse Grundbesitzer längst im Knast säße, wenn er wirklich auf Wanderer schießen würde.
Der junge valencianische Pilger, der eine Viertelstunde hinter mir unterwegs war, berichtete allerdings von demselben Erlebnis - und auch er sei ein wenig nervös gewesen.
Im Dorf hatte interessanterweise vorher niemand etwas von diesem Herumgeballere erwähnt. Nur ein paar Hunde könnten da oben unterwegs sein, warnte man mich.
Waren sie aber nicht, sondern schön brav hinter Gittern auf der Finca, die ich nach anderthalb Stunden passierte - und wo man mir aus einem Auto freundlich zuwinkte. (Häh?!)
Ich sagte es ja, eigentlich ein Tag ohne besondere Vorkommnisse.
Der restliche Weg hinunter nach Fuentes ist dann wieder von Landwirtschaft geprägt - aber welche Viecherei muss es sein, diesen steinigen Boden zu bestellen! Ob die Wollhändler früher auch hier lang gezogen sind?
Fuentes ist umgeben von Feldern. Ich hatte reichlich Zeit, mich umzuschauen und auf dem Kirchplatz unter einem Baum voller tirillierender Vögel zu sitzen, weil die Herrin über den Herbergsschlüssel, die Señora Rosario im Nachbardorf zum Essen eingeladen war und mir erst nach anderthalb Stunden öffnen konnte.
Später erschien an der Herberge noch ein alter Mann mit einem Stock, der meinen Ausweis stempelte und dankbar eine kleine Geldspende entgegennahm - für jene Pilger, die so arm seien, dass man sie unterstützen müsse, sagte er. Vor hunderten Jahren hat eine reiche Dame eine Stiftung getätigt, die Ermita, ein abgeschlossenes Hospital erbauen lassen und verfügt, dass jeder Bedürftige in Fuentes eine Nacht bleiben und eine Mahlzeit bekommen solle.
Und das gelte bis heute, verriet mir dann noch mein Banknachbar bei meiner letzten abendlichen Dorfrunde, der Besitzer des Tabakladens. Ich solle mir doch mein Gratisessen abholen!
Dass ich weder bedürftig sei noch schnorren wolle, verstand er so gar nicht.
Aber als er mir dann erzählte, wie gern er reisen würde, wenn er nur das Geld hätte, wurde ich ganz demütig. Vielleicht hält er mich wirklich für arm, weil ich zu Fuß gehe!?
Caminos del Norte, Primitivo, Muxia y Fisterra, Portugués mit Variante espiritual, Mozárabe; Voie de Régordane, Chemin du Piémont Pyrenéen, Route Bidassoa-Nive;
Via Regia, Via Jutlandica, Via Porta, Münchener Jakobsweg u.v.m. in Deutschland
Via Regia, Via Jutlandica, Via Porta, Münchener Jakobsweg u.v.m. in Deutschland
Fortsetzung: Ruta de la Lana im März 2024
Montag, 8.4.2024
Aufbruch aus Fuentes im ersten Sonnenlicht, vorbei an einigen Lagunen.
Und immer weiter auf dem Woll-Weg, der eigentlich Lammrücken- oder Hammelbraten-Weg heißen müsste, weil kein Mensch sich mehr für die Wolle interessiert.
Und von glücklichen Schafen kann man auch nicht immer reden: manchmal findet man sie zu Dutzenden zusammengepfercht auf einem Bauernhof.
Dafür aber von einer glücklichen Peregrina. Als ich bei einem späten Frühstück meine letzten Madalenas verspeiste, fiel mir auf, dass auf der Tüte die Kontaktdaten der Bäckerei standen. Also schickte ich auf gut Glück rasch eine SMS, dass dies die besten Madalenas gewesen seien, die ich je gegessen hätte. (Stimmt: ich bin, wie gesagt, kein Fan, aber die waren deutlich leckerer als das eingeschweißte Fabrikzeug, das man hier sonst oft bekommt.) Postwendend kam die Antwort:
„Nos alegramos mucho que te gustasen
, buen camino
.
Muchas gracias por tus palabras.
“
Vor allem aber begeisterte ich mich an diesem kurzen Wandertag (nur 22 km bis Cuenca) wieder am Wechsel der Kulissen. Manchmal kommt es mir wirklich ein großes Landschaftstheater mit ständig neuen Bildern vor.
Dafür gab es heute tagsüber wenig Kontakt mit Menschen. Nur ein alter Mann brachte mal wieder sein Staunen über mein Tun zum Ausdruck. (Warum komme ich eigentlich fast ausschließlich mit Männern ins Gespräch?!)
Am späten Mittag dann der erste Blick auf Cuenca. Himmel - DAS soll ein Weltkulturerbe sein?! Eine monotone, aus dem Boden gestampfte Reißbrettsiedlung, wie man sie überall finden kann.
Aber nach einem halbstündigen Marsch durch die Trabantenstadt zeigten sich schon vertrautere, wenn auch keineswegs spektakuläre Bilder.
In der Herberge empfing mich der freiwillige Hospitalero Luís, trug minutiös in makelloser Druckschrift meine Daten ins große Buch ein, versorgte mich mit Hinweisen für die nächsten Etappen (und, auf Anfrage, für die besten Eisdielen der Stadt) und schickte mich dann los.
Die Altstadt liegt auf einem Hügel, der von zwei Flüssen umschlossen wird. Für den besten Überblick kraxelte ich erst mal auf einen gegenüberliegenden Berg - und plante gleich, zur blauen Stunde wiederzukommen: ein sensationell schöner Blick!
Dann der eigentliche Stadtbummel, und ich kann nur sagen: zwei Tage hätten nicht gereicht, all die Wunder dieses Ortes zu erkunden. Eine Kirche reiht sich an die andere, dazwischen Klöster, Konvente und Seminare.
Der Höhepunkt aber ist die Kathedrale. Ich habe wirklich schon viele Kirchen besucht - aber selten eine, die so mit Kunstschätzen gefüllt ist, ohne dabei geschmacklos überladen zu wirken. Selbst die Sakristei ist so prächtig wie ein Thronsaal; dann gibt es noch einen Kapitelsaal, eine „versunkene Kapelle“ und Vieles mehr.
Aber auch die Gassen der Unter- und Oberstadt sind farbenprächtig.
Als ich nach einer Stunde aus der Kathedrale trat, waren allerdings die Sonne verschwunden und die Temperatur deutlich gefallen, Regenschauer und eine kalter Wind vertrieben die Touristen schnell aus dem Straßenbild. Kein Gedanke mehr an ein Eis! Auf dem Rückweg zur Herberge machte ich noch ein paar - nein, wieder viel zu viele - Einkäufe, und dann gab's erst mal ein leckeres Abendessen im Schlafsaal – perfekt!
Netterweise hatte ich heute sogar mal Gesellschaft, und so kam fast wieder das Pilgerfeeling aus dem letzten Sommer auf: Dennis, ein Mittsiebziger aus England, und Ángel, 18, aus Valencia. Ein junger Mann mit großem Appetit: Was er sich als Picknick vorbereitete, entspricht ungefähr meinem Bedarf an Sandwiches für vier Tage!
Mit Ángel kam ich dann tatsächlich auch noch ins Gespräch, nachdem er sich von seinen Kopfhörern und seinem Tagebuch losgerissen hatte. Unsere erste Begegnung in Monteagudo war ja nur kurz gewesen, und da er von dort aus bis Cuenca laufen wollte, hatte ich nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Aber ungeübt gleich 45 Kilometer rennen zu wollen, ist eben keine sonderlich schlaue Idee, und so brauchte er prompt wegen Kniebeschwerden einen Pausentag.
Nun, ich bin gespannt, ob er es jetzt doch ein bisschen ruhiger angehen lässt und wir uns in der nächsten Herberge wieder treffen. Laufen möchte ich allerdings lieber für mich allein.
Dienstag, 9. April
Die Herren pennten beide noch, als ich mich um Viertel vor acht aus dem kalten Haus schlich.
Das Mini-Öfchen hatte noch nicht mal über Nacht meine Wäsche getrocknet, und mit vier Grad Außentemperatur hatte ich auch nicht gerechnet. Dazu gab es einen eisigen Gegenwind aber auch einen wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Und wieder mal 12 oder 13 km auf Asphalt. Nicht sehr spannend.
Ich hatte vor, im nächsten Ort eine Bar aufzusuchen und etwas Heißes zu trinken, aber die Dörfer unterwegs wirkten eins verlassener als das andere. Offenbar waren alle Menschen gerade mit dem Auto unterwegs. (Wofür sie nun gar nicht schwärmt: wenn es auf der Straße lärmt!)
Ab Mittag wurde es etwas wärmer und auch landschaftlich wieder interessanter. Bis auf eine Frau und einen weit entfernten Schäfer bekam ich allerdings nicht einen einzigen Menschen zu sehen, geschweige denn zu sprechen.
Eine bizarre Sehenswürdigkeit ist Villabilla, ein verlassenes und dann auch schnell komplett verfallenes Dorf – wie eine Kulisse für einen Katastrophenfilm.
Danach wieder viel einsame Landschaft, aber die Farben sind einfach traumhaft schön: creme, ocker und rostbraun in allen Schattierungen, dazwischen saftiges grün, und darüber spannt sich ein knallblauer Himmel.
Mein Tagesziel war Villar de Domingo García, im Winter 70 Einwohner, im Sommer doppelt so viele. Darüber sprach ich mit der Apothekerin, María Angustias Romero, bei der ich den Herbergsschlüssel abholen sollte (eine neue Variante!). In manchen Dörfern in dieser Gegend wohnen nur noch zehn, fünf oder gar ein, zwei Menschen. Wenn sie demnächst in den Ruhestand gehe, werde auch niemand ihre Apotheke übernehmen, sagte die Frau - wieder ein Serviceangebot weniger. Schade, aber aufs große Ganze gesehen ein ganz normaler Entwicklungszyklus von Werden und Vergehen, fand sie.
Die Herberge befindet sich im ehemaligen Schulhaus: sehr klein, etwas angesammelt, aber wohl durchdacht: Da es im Ort keine Geschäfte (mehr) gibt, stehen eine Mikrowelle und Fertigmahlzeiten bereit.
Als ich mein Bett bezog, stand plötzlich der Apothekersgatte in der Tür: Die Bar sei doch jetzt geschlossen, und für den Fall, dass ich nicht genug zu Essen dabei hätte: ein Baguette, eine Dose Leberpastete, Waffelkekse, drei Bananen, Cola und Sprite.
Wie rührend!
Mit den kalten Getränken konnte ich übrigens kurz darauf den nächsten Peregrino glücklich machen: nicht etwa Ángel, der offenbar wirklich noch ins zehn Kilometer entfernte Torralba weitergegangen ist (was ich auch kurz erwogen hatte), sondern der alte Herr, Dennis, der eigentlich nur eine kurze Etappe hatte laufen wollen und entsprechend groggy war.
Wie gut, dass eine halbwegs windgeschützte Bank vor dem Haus steht - die beste Art, den Abend zu verbringen!
Mittwoch, 10.04.2024
Die Sonne hat sich über die Hügel geschoben und macht sich daran, den Nachtfrost zu vertreiben; ein paar lange Schattenfinger greifen noch nach dem Tal. Ein Kuckuck ruft, die Lerchen jubeln, ein Fuchs lugt um die Ecke, ehe er verschwindet, eine Wachtel fliegt schwerfällig auf, und zwei Rehe beenden bei meinen Anblick fluchtartig ihr Frühstück. Kein menschliches Geräusch ist zu hören, mit Ausnahme meiner eigenen, aber natürlich zeigen die frisch gepflügten Felder und die Mandelplantagen von Landwirtschaft.
Ein traumhafter Morgen.
Warum nur tun wir alles, um diese einzigartig schöne Welt zu zerstören?! Ich denke oft darüber nach, während ich so vor mich hin gehe. Auch wenn mein Glashaus jede Menge zerschlagener Scheiben hat: Ich bin mit dem Flugzeug gekommen, ich benutze ständig mein Smartphone und trage so zum gigantischen Stromverbrauch des www bei. Da sind die Wiederverwendung von Plastiktüten und der geringe Fleischverzehr nur Tropfen auf dem heißen Stein. (Über einen Solchen würde mein Hinterteil sich übrigens sehr freuen: der Stein auf dem ich gerade sitze, ist ausgesprochen kalt!)
Aber wenn vielleicht jeder seine Tropfen beisteuern würde...?!
Naiv, ich weiß.
Kurze Zeit später flutet eine Herde Schafe den Weg (der ausgerechnet in dieser Gegend als Wanderweg markiert ist). Ich grüße den Schäfer und frage nach seinem Ergehen. „Gut. Arbeit eben“, gibt er zur Antwort. Etwa 800 Schafe hüte er, erfahre ich dann, aber natürlich nicht seine eigenen Tiere. Und was ich so treiben würde, will er wissen. Ah, auf dem Pilgerweg nach Burgos! Wie lange das dauere, eine Woche?
(Er kommt offenbar nicht so weit herum...)
Und ob ich draußen schlafen und in Bars essen würde, erkundigt er sich weiter. Ich: Nein, ich schlafe in Häusern und bringe mir mein Essen mit. Das tue er auch, sagte der Schäfer, abends um halb acht gehe er nach Hause zum Abendessen, und seine Brotzeit habe er dabei.
Meine Kamera baumelt zufällig gerade vor meinem Bauch, und rein zufällig löst sie während unseres Gesprächs dauernd aus... Auch wenn er nicht so aussieht - der Mann ist wahrscheinlich zehn Jahre jünger als ich und verdient ein Zehntel von meinem Gehalt - höchstens.
Die heutige Etappe (25 km) ist landschaftlich wieder eine große Freude und wird zudem durch einige recht schmucke Dörfer aufgelockert, die aber alle fast menschenleer sind. Zuerst Torralba mit einem schmucken Dorfplatz in weiß-gelb und schmiedeeisernen Fenster- und Balkongittern.
Der nächste Ort heißt Albalate de las Nogueras und liegt am Fuß der Sierra de Bascuñana.
Hier finde ich auch ein wahres Shopping-Paradies: ein winziges, als solches kaum erkennbares Eck-Lädchen. Das draußen angekündigte Eis gibt es tatsächlich - aber nur wenn man eine ganze Kiste Magnum abnimmt-! Stattdessen erwerbe ich für 40 Cent je eine Gurke, Tomate und Möhre.
Auch in Albalate unternehme ich wieder einen Versuch, die romanische Kirche zu besichtigen, die den Dorfplatz beherrscht. La Maribel hüte den Schlüssel, sagt man mir, einfach fragen im Haus am Spielplatz. Auf mein Klopfen erfolgt keine Antwort, obwohl die Tür offen steht, also setze ich mich auf eine Bank und warte.
Da kommt ein Männlein mit einem Stock und einem Eimer angewackelt und gießt mühsam die dürren Pflänzchen in der Mitte des Platzes. Ich biete meine Hilfe an und hole Wasser vom Brunnen, während der Hobbygärtner erleichtert Platz nimmt. „Ich habe all die Blumen selbst gepflanzt“, verrät er, „und sogar einen Kirschbaum. Darum kümmert sich ja sonst niemand.“
Und wie es der Zufall so will, ist er der Gatte der Maribel, die kurz darauf erscheint und mich bereitwillig in die Kirche führt. „Wunderschön, nicht?!“, findet sie.
Naja. Ich bin jedes Mal enttäuscht, wenn das Innere von romanischen oder gotischen Kirchen sich als Stilmix entpuppt. Aber das höre ich immer wieder - und auch von der Maribel: Während des Bürgerkriegs haben die Sinvergüenzas viele Kirchen zerstört oder zumindest alles rausgeholt und abgeschleppt, Kunstwerke, Reliquien, Orgeln. Alle Orgelemporen sind leer, deshalb gibt es auch keine prächtige Kirchenmusik!
La Maribel spricht noch lange und mit Gefühl über den Zustand der Welt, die Jugend ohne Respekt und Disziplin (ihre eigenen Enkel inbegriffen) und die schrecklichen Kriege, die sie zum Weinen bringen. Endlich: So, aber jetzt müsse sie das Mittagessen kochen! Ob ich mit ihnen essen wolle? Ich danke gerührt, lehne aber ab, denn ich habe kurz vorher während der Wartezeit mein Picknick verzehrt - noch immer das geschenkte Baguette und die Bananen vom Vortag. (Leberpastete und Waffelkekse habe ich als Spende für nachfolgende Pilger hinterlassen...)
Albalate de las Nogueras ist wirklich hübsch, mit einem liebevoll angelegten Park unten am Fluss, einer mittelalterlichen Brücke und jeder Menge uralter Weinkeller in Höhlen.
Jedes Dorf in dieser Region verfügt über hundert oder mehr solcher Höhlen und alte Bewässerungsanlagen. Nur ausgedehnte Weinfelder sieht man nicht, anders als in der Umgebung von Alicante. Dafür gibt es kleine Gärten in ausgewählten höheren Lagen.
Gegen halb vier laufe ich in Villaconejos de Trabaque ein, wo ich vor der Herberge mit dem Hospitalero verabredet bin. Dieser Ort ist berühmt für seine Gastfreundschaft Pilgern gegenüber, und ich bin gespannt auf alles, was da kommen möge.
Der kleine Spanier Ángel übrigens kommt nicht. Nach ihm hatte ich mich heute Vormittag schon in Torralba erkundigt. Ja, der sei am Vorabend gegen sechs durch den Ort gelaufen. Hier gebe es ja keine Herberge. Aber wenn ich einen Schlafplatz benötige, könnte ich jederzeit zu ihm kommen, sagte mein freundlicher Gewährsmann. (Und das war wirklich nur freundlich gemeint, dessen bin ich sicher!)
Also, das Engelchen setzt seine Flügel ein und hetzt weiter den Camino entlang.
Dafür humpelte am Abend aber noch Dennis aus Liverpool heran, völlig groggy von des Tages Müh’. Da hatte ich schon einige Stunden mit meinem persönlichen Führer Paulino hinter mir.
Ein bemerkenswerter und sehr gebildeter alter Herr (80+), dem es riesige Freude machte, mir sein Dorf und Umgebung zu zeigen und mich über alles Mögliche zu belehren. Je länger der Tag voran schritt, desto häufiger herzte und küsste er mich, und am liebsten hätte er mich noch einen weiteren Tag da behalten, um mir weitere Sehenswürdigkeiten zu präsentieren. Aber das wäre mir in jeder Hinsicht zu viel geworden...
Schnell noch einen Cafecito in der Bar, und dann ging es weiter: zu einem Kloster in den Bergen, San Miguel de la Victoria, wieder mit einer leeren Orgelempore; und die Statue des Gekreuzigten, die ich bewundern sollte, riss mich ebenfalls nicht vom Hocker.
Dafür aber das Geier-Ballett draußen! Mit dem bloßen Auge konnte man sehen, wie die Jungen hungrig auf den Felsvorsprüngen hockten und ihre Eltern erwarteten.
Priego, einst ein relativ bedeutendes Dorf mit Stadtmauer und riesiger Kirche, stand auch noch auf der Agenda, und überall rief Paulino den Leuten Grüße zu. Auch den Priester kennt er natürlich und stellte stolz seine deutsche Pilger-Trophäe vor.
Bis wir zurück an der Herberge waren, hatte es acht Uhr geschlagen. Mir blieb gerade noch Zeit für eine Dusche, und dann wurden Dennis und ich mit dem Auto zur zeremoniellen Pilgerbegrüßung und Fiesta abgeholt: in einer Cueva-Bodega, wie sie so typisch für diese Gegend sind!
Erst lernten wir alles über die Bau- und Funktionsweise dieser Weinkeller (die früher ständig aufgebrochen und ausgeraubt wurden), dann ging es in Pepes Höhle. Pepe de la Lana ist die berühmteste Figur des Pilgerwegs, Schlachter, Bauer, Winzer, Tankstellenbetreiber, Notfall-Taxifahrer und Präsident der Freunde des Jakobswegs in der Provinz Cuenca. Ein bulliger Typ mit schwarz-grau-melierten Locken, ganz anders gestrickt als Paulino, aber genauso herzlich und großzügig.
Ein ganzer Jamón Serrano und verschiedene Würste aus Pepes Produktion wurden aufgetischt, würziger Manchego-Käse, knuspriges Brot und eine Schüssel Salat mit Tomaten und Thunfisch, in die alle einfach mit ihren Gabeln hineinlangen. Vorher allerdings führte Paulino Dennis und mich, bewaffnet mit einer Ölfunzel und einem Krug, in die Tiefen des Höhlenkellers, wo ideale Bedingungen für den Wein herrschen: dauerhaft um die zwölf Grad Lufttemperatur, kein Licht, ein fester Boden, der Erschütterungen verhindert, und jede Menge Fledermäuse, die alle Mücken fressen. Paulino erzählte weiter, wie sie als Kinder hier mit nackten Füßen die Trauben gestampft hätten und kopfüber in die riesigen Tonbottiche gehängt worden seien, um die von innen abzubürsten. Dann durfte Dennis Wein zapfen - mittlerweile allerdings aus einem Edelstahlbehälter -, und das Gelage begann.
Als Schwarzbrenner betätigt sich Pepe auch noch, also gab es zum Dessert allerlei Hochprozentiges aus Kaffee und Mandarinen (das allerdings ohne mich!), und dann wurden noch Geschenke in Form von Kreuz-Anhängern überreicht, Fotos gemacht und warme Worte gesprochen.
Man möchte uns als Pilger wertschätzen und ehren, uns in allem unterstützen und uns danken dafür, dass wir unsererseits alles Gute, das wir hier und anderswo auf dem Weg erfahren haben, weiter in die Welt tragen und dort verbreiten. Wenn das kein Camino-Geist ist, weiß ich es auch nicht!
Jedenfalls war's in jeder Hinsicht ein unvergessliches Erlebnis, und dabei habe ich bestenfalls die Hälfte davon erzählt!
Donnerstag, 11. April
Nach der Orgie in der Bodega hatte ich keine Lust, mir den Wecker zu stellen, und da Paulino mir in der Herberge „das beste Zimmer!“ hatte zukommen lassen, war ich auch gänzlich ungestört. Abmarsch also ausnahmsweise erst um Viertel vor neun - aber immer noch früh genug, um das Licht zu genießen!
Und siehe da: ein Pilger voraus!
Es war natürlich Dennis, der sich etwas früher auf den Weg gemacht hatte. Ein etwas herber, nicht allzu gesprächiger Mensch, aber zum - vermeintlichen - Abschied in der Herberge hatte er noch hervorgebracht: „I wonder If you might be interested in one of my Camino photo books...“ Das bestätigte ich natürlich und bekam sogleich einen Link geschickt. Mal sehen, ob mich das inspiriert, selbst auch endlich mal mit meinen Buchprojekten zu Potte zu kommen -!
Wieder viel landschaftliche Abwechslung auf wenigen Kilometern - und plötzlich ein ganzes Geschwader Geier!
Da kann man natürlich nur strahlen.
Aber bald verging mir das Lachen: Gewiss, Paulino hatte mich gewarnt, dass der Río Guadiela derzeit wegen des vielen Regens im März nicht gefurtet werden könne. Stattdessen empfahl er mir 15 km Landstraße. Aber ich wollte es wissen – voilà: die Furt war komplett geflutet! Und obwohl ich ja durchaus abenteuerlustig bin, gehört ein hüfttiefes Flussbad mit Gepäck nicht mehr dazu.
Zum Glück verhalf die Wander-App Komoot mir zu einer Umgehung: vier Kilometer zusätzlich zu den ohnehin schon avisierten 29, aber immer noch viel besser als die Asphalttreterei. Und schöner war diese Route allemal.
Meine Mittagspause machte ich in dem sonnendurchglühten und mal wieder menschenleeren Dorf Albendea.
Offenbar hatte auch hier sich jemand die Mühe gemacht, ein paar Blümchen zu pflanzen, die mit dem knallblauen Haus kontrastieren.
Und plötzlich fiel mir noch ein wunderbares Fotomotiv ins Auge: ganz am anderen Ende des Platzes saß vor ihrem Haus eine winzige alte Frau, die ein halbes Dutzend Katzen mit Putenbrustaufschnitt fütterte. In dem Moment, wo ich verstohlen mein Teleobjektiv in Stellung gebracht hatte, blickte sie auf, sah mich und rief etwas. Äußerst beschämt ging ich zu ihr, während die Tiere sich davon machten, aber sie wollte nur wissen, ob ich das schöne Motiv hatte einfangen können. Wenn ich morgens oder abends käme, könnte ich sogar zwölf oder mehr Katzen sehen!
Ich wollte aber lieber die wunderschöne alte Frau sehen, mit Kopftuch, einem dünnen Zopf und herrlich klaren Augen. Und wieder passierte das mit der von selbst auslösenden Kamera... (Wenn man vorsichtshalber ein Weitwinkel und eine kleine Blende wählt, ist die Trefferquote nicht schlecht!)
Währenddessen erzählte die Frau, dass sie schon 89 sei, aber Gott liebe sie, denn es gehe ihr gut. Die Tiere seien ihr Ein und Alles, während sie von Menschen nicht viel halte. Zwei gute Männer habe sie gehabt - und hingebungsvoll umsorgt! -, beide seien tot, wie auch ihr geliebter Hund, der mit 14 Jahren dahingegangen sei. Der zweite Mann habe ihr so viel Geld hinterlassen, dass sie sich eine Wohnung in Madrid habe kaufen können, im ersten Stock, jawohl!, und dort wohne sie auch. In Albendea habe sie zwar noch das Haus, aber hier sei ja nichts los (verächtliche Handbewegung über den Platz)!
Nach zwanzig Minuten befand sie, nun habe sie mir alles erzählt, was es zu erzählen gebe, und entließ mich gnädig.
Wieder eine wunderbare Begegnung!
Valdeolivas, das nächste fast leere Dorf, wie der Name schon sagt, ist von Olivenhainen umgeben.
Zum Glück kam ich auf die Idee, in der erstaunlich gut sortierten Bar-Tienda noch ein paar Fressalien einzukaufen, denn an meinem Zielort stellte sich heraus, dass der Mini-Laden nur vormittags geöffnet hat. So hatte ich die letzten Kilometer wieder einiges auf dem Buckel und geriet ganz gut ins Schwitzen. Aber wie immer wurde das Auge für jede Mühe reichlich entschädigt.
Endlich: Salmerón! Den Schlüssel für die Herberge sollte es in einer nahegelegenen Bar geben, hatte Bürgermeister Óscar mir am Telefon gesagt (natürlich war die Bar bei meiner Ankunft geschlossen), und sonst bei Mariluz Ocaña. Die telefonierte mir ein hilfreicher Passant herbei („eine gute Freundin von mir“ - klar, bei 70 Einwohnern kennt wohl jeder jeden), und so kam ich in den Genuss eines repräsentativen alten Stadtpalais ganz für mich allein.
Natürlich war es wieder ziemlich kalt in dem düsteren Gemäuer, aber ein Gerät mit künstlichem Feuer erzeugte zumindest eine Illusion von Wärme, eine heiße Dusche gab's auch, und so konnte ich mir einen gemütlichen Abend machen.
Freitag, 12. April
Eine beschwerliche Bergetappe stand mir heute bevor, hui: Ich musste doch glatt 400 hm am Stück erklimmen!
Auf diese Weise war die morgendliche Kühle aber schnell vergessen, und die eine Stunde Aufstieg wurde belohnt mit einem entspannten Bummel durch einen Wald auf 1200 m Höhe. Nicht gerade das, was wir uns unter Wald vorstellen, aber immerhin viel Grün und jede Menge Steineichen voller Flechten, die auf viel Feuchtigkeit hindeuten. Leider wandelt man aber nicht auf lauschigen Pfaden, sondern die üblichen breiten Schotterpisten.
„Coto privado de caza“ ist das wahrscheinlich meistgedruckte Schild in ganz Spanien - man könnte meinen, das Land bestehe aus herumballernden Karnivoren. Aber hier oben lohnt die Jagd wenigstens: riesige Hirschkühe, ein Wildschwein und eine Art Bergziegen sah ich - zumindest flüchtig - neben dem üblichen Kleingetier.
In Viana de Mondéjar sollte es eine Herberge geben, hatte ich gelesen, aber nirgends standen Telefonnummern. Ich ging also auf gut Glück in das Dorf (drei Bewohner, die gemeinsam an einem Haus herumbauten), fand einen Zettel mit Kontaktdaten an der Tür, hatte sogar ein Netz (!) und wurde nach einer halben Stunde eingelassen, von einem wortkargen Bauarbeiter, der mit seinem Kleinlaster vorfuhr - diesmal leider ohne allerlei Köstlichkeiten mitzubringen...
Die Herberge ist die modernste, sauberste, die ich bisher hatte, sogar mit kompletter Küche - und der letzte Pilger war vor einem Monat hier!
Die Attraktion des Ortes sind die Tetas de Viana, also zwei kuppelförmige Berge („Titten“), die ich abends noch erklettern wollte. Dabei leisteten mit zwei spanische Rentnerinnen Gesellschaft, so dass ich also auch heute noch zu meiner Unterhaltung kam.
Oben: großartige Weitsicht, kaum Wind - genau der richtige Ort, um sich ins Gras fallen zu lassen und in den Himmel zu gucken.
Am liebsten hätte ich von hier oben den Sonnenuntergang genossen, aber der Aufstieg war stellenweise kraxelig und sehr geröllig, und das wollte ich mir nicht in der Dämmerung antun. Also kehrte ich in meinen Herbergspalast zurück und futterte meine Vorräte auf. Morgen wird mein Rucksack federleicht sein!
Sonnabend, 13. April
Nachtleben in Cifuentes. Zum Glück ist es nicht so warm, dass man mit offenem Fenster schlafen müsste, denn von draußen wummern die Bässe in mein Zimmer, immer wieder akzentuiert von Gesprächssalven.
Die Suche nach der Pilgerherberge erwies sich mal wieder als extrem mühevoll, obwohl auf dem Weg nach Cifuentes ein Landcruiser neben mir anhielt und ein Typ mit Glakuhila-Frisur (Variante von Vokuhila: vorn Glatze) mich nach kurzem Geplauder informierte, es gebe in Cifuentes eine Unterkunft beim Schwimmbad und Sportplatz, und die Schlüssel erhielte ich in der Bar Salmerón.
Die hatte natürlich ab Mittag zu, ebenso wie die Touristeninformation, und das Rathaus hatte ich gestern schon ein Dutzend mal vergebens anzurufen versucht. (Im Nachhinein stellte sich heraus, dass in der offiziellen Unterkunftsliste eine Ziffer der Telefonnummer vertauscht war-!)
Also marschierte ich im Zentrum zum nächstbesten Hostal: geschlossen. Aber telefonisch bekam ich sofort ein wunderbares, sauber duftendes Zimmer mit eigenem Bad und Balkon zum Spottpreis von 22,50 €. Das kann man sich wirklich mal gönnen!
Vor allem nach einer zwar nicht langen aber heißen Wanderung, in Spitzenzeiten waren es heute sicher 28 Grad. Wohl der, die einen Sonnenschirm hat!
Morgens sah das noch ganz anders aus; es begann mit einem Spaziergang durch einen lauschigen Wald aus Ilex, Kiefern und Steineichen.
Erster Zwischenstopp war Trillo am Fluss Tajo. Kurioserweise boten sich von der Brücke aus nach beiden Seiten komplett unterschiedliche Bilder - auch in botanischer Hinsicht.
Hier gab’s auch die letzte Einkaufsmöglichkeit vor dem Wochenende.
Und wie ich so beim Spätstück auf den Stufen vor dem Rathaus saß und alles mit meinem Ciabatta vollkrümelte, sah ich eine junge Nonne im Anmarsch auf die Kirche – hurra, DIE Chance, ohne lange Schlüsseljagd hineinzukommen: Nuestra Señora de la Asunción in Trillo - auch wieder mit einem bedeutenden Altarbild.
In Cifuentes bot sich dann sogar mal eine ganz regulär geöffnete Kirche - und zudem eine, deren gotischer Innenraum nicht im Lauf der Jahrhunderte verschlimmbessert worden war – endlich! -: El Salvador. Dazu gehört auch ein herrliches Portal aus dem 13. Jahrhundert.
Auch sonst prunkt der Ort mit jeder Menge sakraler Baukunst, und trotzdem herrscht der unvermeidliche Niedergang: geschlossene Lokale allerorten.
Die Jugend des Ortes (immerhin, es gibt die hier noch!) zeigte sich von all dem unbeeindruckt und starrte fasziniert auf ihre Handies.
Die Musik dröhnt immer noch, aber ich gehe trotzdem schlafen.
Sonntag, 14. April
Ach, was war das für eine Wonne, in einem warmen, trockenen Zimmer zu schlafen, mit duftendem Bettzeug und dicken Handtüchern im eigenen Bad! Auf der Terrasse vor meinem Fenster trocknete zudem die Wäsche im Ruckzuck, so dass ich keine komplizierten Klimaanlagen-Konstruktionen bauen musste wie etwa in Salmerón.
Das Wetter scheint sich allmählich zu ändern: man sieht wieder Wolken am immer noch knatschblauen Himmel. Eine tolle Kombination mit Mohn und anderen Blüten.
Der Weg am Morgen: ein welliges Höhenprofil, die üblichen breiten Pisten abseits der Straßen.
Auf den ersten Höhepunkt des Tages hatte mich glücklicherweise die engagierte Mitarbeiterin der Touristeninformation in Cifuentes aufmerksam gemacht: illusionistische Malerei an den Häusern von Moranchel. Einen kleinen Vorgeschmack auf Kunst gibt es schon am Weg dorthin.
Kaum im Dorf angekommen, wurde ich gleich von einem Einheimischen angesprochen und zum ersten Bild geführt: ein Esel mit allerlei sinnigen Sprüchen dazu. Das nächste Haus ist eher blumig-zart dekoriert.
Hier wohnt, so erfuhr ich, der Vater der Künstlerin. Sie selbst lebt inzwischen als Kunstlehrerin in Guadalajara, wollte aber zur Verschönerung ihres Heimatdorfes beitragen. Und darauf sind die Bewohner auch ordentlich stolz!
Das Beste vons Janze: eine Bäckerei mit Preisen von Anno dazumal (noch in Pesetas) und sogar einem „Geöffnet“-Schild an der Tür. Es soll schon ahnungslose Touristen dazu verleitet haben, tatsächlich eintreten und etwas kaufen zu wollen!
Überall im Dorf öffneten sich die Türen, weil die Bewohner auf einmal etwas ganz Dringendes zu erledigen hatten, während ich herumschlenderte, und das rief auch den Vater der Künstlerin auf den Plan.
Er wollte sowieso gerade seinen täglichen Vormittagsspaziergang machen („Das hält mich gesund!“) und bot an, mir weitere versteckte Malereien zu zeigen. Aber gern! Wirklich bemerkenswert, wie viel Farbe die Künstlerin in das sonst eher triste Ortsbild gebracht hat!
Eine gaaaanz genaue Beschreibung des Weges zum nächsten Dorf bekam ich auch noch, und dann verabschiedete ich mich herzlich, erfreut von dieser Begegnung und den einfachen Mitteln, eines der verlassenen Dörfer wieder attraktiver zu gestalten. (Tatsächlich gibt es dort auch ein paar Neubauten von Kindern oder Enkeln, die zwar in der Stadt wohnen, am Wochenende oder in den Ferien aber gern in die alte Heimat kommen.)
Schon war es Mittag geworden, und ich hatte erst sieben Kilometer geschafft - und vor lauter Kunst vergessen, meine Cantimplora, die Wasserflasche, aufzufüllen! Leider war es noch mal so weit ist es bis Las Inviernas, und es fühlte sich deutlich NOCH weiter an.
Irgendwann erspähte ich dann auf dem Hügel vor mir ein paar Ställe und Wellblechbauten - das sollte doch nicht etwa alles sein?!
Aber dann erstreckte sich hinter der Kuppe doch noch ein Dorf: Las Inviernas.
Kaum war ich um eine Ecke auf die Plaza Mayor eingebogen (jeder Ort hat eine Plaza Mayor und die meisten auch eine Plaza oder Calle Constitución), tobte auf einmal das wilde Leben! Lauter exzellent gelaunte Männer saßen vor einer Bar im Schatten, vor sich ihre Bierchen und das übliche Knabberzeug (auf dem Boden häuften sich also Schalen von Sonnenblumenkernen), und ich konnte kaum „Buenas tar-“ sagen, da hatte mir einer schon den Rucksack abgenommen und mich auf die Bank neben sich gezogen. „Wer bist du, was machst du, was willst du trinken?“ Großes Hallo: „He, Bürgermeister, komm mal her, das ist Cristina aus Deutschland, die von Alicante aus hierher gelaufen ist!“ Weitere Tische wurden gebracht, ein halbes Dutzend Frauen setzte sich dazu, die ganze Geschichte musste von neuem erzählt werden.
Einer der Männer hatte seinen kleinen Sohn dabei, den ich als Fotografen engagierte. Seine Talente scheinen eher auf anderem Gebiet zu liegen, denn das Kerlchen brauchte fünf Anläufe, um ein paar schiefe, wenig schmeichelhafte Bilder zu produzieren, aber die zeigen zumindest die Bombenstimmung.
„Hast du denn unsere Kirche schon gesehen?“, hieß es dann, und mein Nachbar zückte gleich sein Handy, um mir Bilder vorzuführen. Also ging ich noch die Kirche anschauen und meine Flasche auffüllen, riss mich dann aber von der fröhlichen Runde los. („Bis Mandayona willst du noch? Das ist aber weit!“)
Das war aber auch ganz gut, denn nach einem längeren Anstieg wanderte ich die nächsten zwei Stunden oder mehr über eine pfannkuchenplatte Meseta.
Das Ackerland in dieser Gegend ist furchtbar steinig, überall liegen die Brocken haushoch aufgetürmt - oder werden gleich zu Häusern verarbeitet.
Einzige Abwechslung: die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Barcelona und Madrid. Die sehr schnittig aussehenden aber meist erstaunlich kurzen Züge machen so viel Lärm wie ein Überschall-Jet!
Der nächste Ort, Mirabueno, macht seinem Namen Ehre: er bietet einen prächtigen Blick ins Tal.
Unten liegt Mandayona am „süßen Fluss“, dem Rio Dulce.
Die Herberge ist ein zellenartiges Zimmer in einem Multifunktionsbau: Sozialstation, Schule, Co-Working-Space (ja, wirklich - hier!); es gibt lediglich ein Stockbett ohne Decken und zwei Stühle. Duschen sollte ich doch bitte erst in zwei Stunden oder später, denn noch würden sie nebenan arbeiten, bat Óscar, der mich eingelassen hatte. Dann war ich mir selbst überlassen und ging auf die Suche nach Schönem in dem ziemlich tristen Ort: ein paar Schritte im Grünen entlang des Flusses, eine hübsch gelegene aber natürlich geschlossene Kirche.
So wurde der Abend doch noch ganz nett, und auf einer Bank in der späten Sonne zu sitzen, fühlt sich immer gut an.
Die Schlafsituation machte mir allerdings ein wenig Sorgen, und fast hätte ich bei Nachbarn um eine Wolldecke gebeten. Die Klimaanlage war nämlich beim besten Willen nicht dazu zu bewegen, sich in Gang zu setzen.
Aber dann kam ich auf die raffinierte Idee, im Foyer nach dem Sicherungskasten zu suchen, und siehe: die entscheidenden beiden Schalter standen auf „Aus“. Hah, nicht mit mir!
Montag, 15. April
Die Nacht in der Herberge war in der Tat knuffig warm. Und meinen Stempel bekam ich auch noch, weil das Rathaus bereits um acht Uhr öffnet.
Mit dem Barranco del Rio Dulce stand heute eine der landschaftlich schönsten Strecken auf dem Programm. Ein einzigartiges Biotop sollte es sein, sowohl was Flora als auch was Fauna betrifft.
Bis Aragosa schlendert man ein paar Kilometer ganz entspannt am Fluss entlang. Dann ist wieder eines der traurigen verlassenen Dörfer erreicht.
Sozialstation und Kirche liegen direkt nebeneinander - das Komplettpaket für die älteren Herrschaften. Leider alles in ziemlich schlechtem Zustand.
Doch auch in Aragosa wird offenbar manchmal so richtig wild gefeiert! Davon zeugen gestapelte Plastikstühle und ein paar Spanien-Fähnchen.
Das Tor zum Kirchhof: verschlossen. Doch als ich ein Stück weiter ging, sah ich, dass es nicht nur einen zweiten Zugang gibt, sondern dass das Portal auch offen stand. Also schob ich mich vorsichtig hinein.
Nicht vorsichtig genug, denn aus der Sakristei erscholl ein „Hola“, und dann erschien ein schmales Männchen in Arbeitshosen und einer speckigen, zu großen Lederjacke. „Ach, eine Touristin“, sprach es. „Ich putze gerade ein bisschen, und komm doch mal mit. Hier in der Sakristei, guck, da kommt die halbe Decke runter, alles feucht!“
Ich murmelte Anteilnehmendes und „bestimmt ein teurer Spaß“.
„Diese Kirche ist ja sehr bescheiden“, gab mein Gegenüber zu bedenken, und als ich sagte, gerade das gefalle mir, stimmte er zu, auch hier wohne Jesus Christus. Ob ich wisse, wer das sei?
Ja, doch...
Erfreut legte der Mann los und - ich kann es leider nicht anders sagen - spulte ohne Punkt und Komma, und vor allem ohne mich dabei anzusehen, die Eckpunkte der christlichen Lehre ab. Daher überraschte es mich auch nicht, als er kurz Atem holte: „Ich bin übrigens der Priester“ und dann fortfuhr.
Es folgte noch sehr viel zum Niedergang der Welt - Euthanasie, das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung in Spanien, Genderwahnsinn und der völlige Mangel an Moral bei den jungen Menschen. Der Glaube und die christliche Kirche würden ihnen in diesen säkularen Zeiten nichts mehr bedeuten.
Ob die Kirche daran völlig unschuldig sei und nur noch resignieren könne, fragte ich.
Oh, nein, nein, auch die Kirche müsse sich ändern, gab el Señor Cura zu.
Also wartete ich gespannt und hörte dann: „Wir müssen uns noch stärker Gott zuwenden und mehr beten!“
Ach. Nun, das überzeugte mich nicht so recht...
Damit überließ ich den guten Mann - Pfarrer für fünf weitere Kirchen, die allesamt nur von einem halben Dutzend Gläubigen besucht werden - wieder seinen Reinigungswerk.
Direkt hinter dem Friedhof von Aragosa tut sich auf einmal eine wildromantische Cañon-Landschaft auf, besonders spannend durch den Kontrast mit dem frischen Frühlingsgrün und die rosa Zistrosen mit den typischen knittrigen Blütenblättern.
Natürlich ist diese Gegend auch ein Vogelparadies. Den ganzen Morgen hörte ich es singen und klingen, wobei ein Vogel sich mit seinem durchdringenden "Füüüt, füüüt, füüüt" immer wieder in den Vordergrund schob. Auch Kuckucke, Raben und Greifvögel waren mit ihren charakteristischen Rufen zu erkennen. Dabei wurde mir allerdings bewusst, dass die Geier immer stumm ihre Kreise ziehen. Ob das mit zu ihrem unheimlichen Ruf beiträgt?!
Nach diesem Höhepunkt wurde das Tal wieder breiter und bot Platz für ein weiteres Dorf, mit Frontón mitten im Ort, und gleich links davon ist die Kirche – ein sehr entspanntes Miteinander!
Da ganz Spanien von 14 bis 17 Uhr geschlossen ist, beschloss ich, mich anzupassen und hinfort auch Siesta zu halten. An hübschen Plätzen mangelt es nicht.
Die Ortschaft Pelegrina lockt mal wieder mit einer Burg (wer die einst besaß, herrschte über den Fluss und das ganze Tal!), aber den Aufstieg ersparte ich mir und schraubte mich stattdessen auf der anderen Seite in angenehmen Serpentinen auf 1100 Meter hoch.
Auf der Hochebene bietet sich wieder ein völlig anderes Bild.
Keine Frage, dies ist ein an Geschichte und Geschichten reicher Weg, denn auch der Camino del Cid und die Ruta den Don Quijote führen nach Sigüenza.
Dort kam ich am Spätnachmittag an, schaute kurz in der Touristeninformationen vorbei und freute mich auf eine ausgiebigen Spaziergang durch die Stadt. Erster Eindruck: sehr vielversprechend.
Mein Quartier fiel heute mal eine Nummer edler aus: Im Palacio de los Infantes wurden jahrhundertelang Chorknaben für die Kathedrale ausgebildet, denn Sigüenza war Bischofssitz. Heute betreiben die Padres Josefinos dort ein Gästehaus und ein Bildungszentrum. Und wieder geriet ich an einen gesprächigsfreudigen Geistlichen, aber von ganz anderem Kaliber.
Pater José Ramón wollte mir eigentlich nur das Haus und einen besonders schönen Blick vom oberen Stockwerk aus zeigen...
Doch anderthalb Stunden später standen wir immer noch zusammen - damit hatten sich der Besuch der Kathedrale und der Stadtbummel leider für mich erledigt - und diskutierten über spanische Geschichte in der frühen Neuzeit (mit der ich mich zufällig einigermaßen gut auskenne) und das Weltreich, in dem die Sonne nie untergeht. José Ramón vertrat doch tatsächlich die Ansicht, die ganzen Völker (die ich als unterworfen betrachte) hätten sich begeistert unter spanische bzw. kastilische Herrschaft begeben und davon profitiert. Ja, mehr noch, diese Rolle als Welten-Einiger müsse Spanien auch heute wieder einnehmen (natürlich auf friedliche Weise)!
Nun, ich hatte viel zu (be)denken, als ich mich nach einem späten Abend-Einkauf und einem Videotelefonat mit der Familie in meinem ehemaligen Internatszimmer zu Bett begab.
Dienstag, 16. April
32 Kilometer bis Atienza waren heute zu laufen, also stellte ich mir den Wecker, um früh starten zu können. Aber ich hatte die Rechnung nicht mit dem Pater gemacht, der mich zum Frühstück oder zumindest zu einem Heißgetränk einladen und noch viele weitere Themen erörtern wollte, u.a. den Zustand der Kirche in Spanien und anderswo, seine Wertschätzung der Protestanten und ihres Umgangs mit dem Evangelium und die Frage, wie man in der Schule Region unterrichten sollte. (Auch hier hatte ich natürlich wieder von Fini und konkret ihrer Ernüchterung angesichts völlig uninteressierter Schulkinder erzählt.)
Aber ich riss mich nach einer Weile dann doch los und wurde mit einer Umarmung und vielen guten Wünschen verabschiedet.
Mein ausgeklügelter Plan: vormittags wenig fotografieren und ordentlich Strecke machen, solange ich noch frisch und die Sonne nicht so heiß sein würde (was sie heute aber gar nicht wurde, kaum 20 Grad und kräftiger Wind bei weiterhin tiefblauem Himmel).
Fünf oder sechs Kilometer klappte das auch, dann lockte Palazuelos, das sich wegen seiner mehr oder weniger gut erhaltenen Stadtmauer ambitioniert „Klein Ávila“ nennt, im Grunde aber ein ziemlich verfallenes Kaff ist.
Kurz danach entschied ich mich für einen Abstecher nach Carabias, von dessen romanischem Kirchlein ich in dem wunderschönen Blog von Gertrudis gelesen hatte. (Sie war übrigens auch Schuld daran, dass ich mich spontan in die Ruta de la Lana verliebt hatte.)
Manch einer hätte es bekloppt genannt, dafür acht zusätzliche Kilometer in Kauf zu nehmen, aber ich fand es lohnend: ein wunderschöner Kreuzgang mit Doppelreihen von Säulen. Leider war die Kirche selbst natürlich wieder verschlossen.
Und im selben Dorf - das wie alle anderen über keine Bar, geschweige denn einen Bäcker oder gar ein Lebensmittelgeschäft verfügt, bekam ich von netten Leuten sogar noch Brot geschenkt - alles Andere hatte ich am Vorabend in Sigüenza gekauft -, so dass einer weiteren Siesta nichts entgegen stand.
Dann der lange Weg zurück auf die Ruta. Sehr einsam...
In Santamera wohnen gerade mal fünf Menschen. Dabei sieht der Ort nach deutlich mehr aus und ist vor allem ziemlich spektakulär gelegen: umgeben von hohen Felswänden, die grandios aufgefaltet sind. Der Anblick entschädigt für einen widerlichen Steilanstieg auf einer rutschigen Schotterpiste.
Am Nachmittag gönnte ich mir eine weitere Pause mit Auffüllung der Vitaminspeicher und erreichte schließlich ein weiteres Dorf, Riofrío del Llano.
Vielversprechend aber leider ein Fehlschlag: die per Aufsteller angekündigte Bar war zu.
Auch auf die Landstraße, die von hier aus nach Atienza führt, hatte ich vergebliche Hoffnungen gesetzt: so gähnend leer wie die Orte unterwegs. Keine Chance für eine Mitfahrgelegenheit. Also musste ich um halb fünf nachmittags in den sauren Apfel beißen und noch mal zehn Kilometer im Aufstieg unter die Füße nehmen.
Das ging aber dann doch erstaunlich schnell, durch einen geisterhaft kahlen Wald, und dann bot sich mir, wie so oft schon, wieder ein eindrucksvoller Anblick: Sigüenza, por fin!
Am Ortseingang erkundigte ich mich bei einem Hotel nach dem Weg zur Herberge: Ich könne gern auch bei ihm bleiben, lud der Besitzer mich ein, verwies mich dann aber an den Bürgermeister, der zufällig gerade in seinem Auto vorbeikam und mich hoch (oh, ja!) fuhr.
Die Albergue ist total abgeranzt und vollgemüllt, aber der Alcalde sagte ganz stolz, seine Señora kümmere sich darum; und sie hatte wohl auch für mich geheizt und ein Bett bezogen, also alles gut. Eigentlich sei die Unterkunft gratis, aber als Spende dürfe ich gern einen oder zwei Euro hinterlassen, ließ der Alcalde mich wissen. Auch schon wieder rührend.
Einen kleinen Laden und einen Bäcker (der allerdings keinerlei interessante lokale Spezialitäten zu bieten hatte, so dass ich mit einem viel zu großen Körnerbrot abzog) konnte ich auch auftreiben, eine Anstandsrunde durch den Ort war ebenfalls noch drin, dann wurde „gekocht“. Natürlich fehlt es auch in dieser Herberge an sämtlichen Utensilien; der - ausgeschaltete - Kühlschrank riecht, als läge etwas Totes darin, und in die Mikrowelle mochte ich dann gar nicht mehr reinschauen. Also gab es kalte Küche, Thunfischsalat à la maison als ersten von drei Gängen. Beim Zusammenrechnen bin ich auf 40 Kilometer gekommen, da muss man schon einiges wieder zufüttern...
Bin aber erstaunt, wie locker ich diesen fast-Marathon gelaufen bin!
17. April
Da ich am Vorabend nicht mehr viel Lust und Zeit für einen Stadtbummel gehabt und überdies für heute eine kurze Etappe geplant hatte, begann ich den kalten aber vielversprechenden Tag ausnahmsweise als Touristin. Als erstes führte mich das Programm hoch zur Burgruine, die reizvolle Ausblicke bietet.
Atienza hat allein - ich glaube - acht Kirchen, verfügt aber auch über eine (nicht sehr eindrucksvolle) Stierkampfarena und einen Marktplatz mit malerischen Arkadengängen.
Die einzige geöffnete Kirche ist Johannes dem Täufer gewidmet.
Am Ortsausgang gibt es dann noch ein wunderhübsch gelegenes Kirchlein , mit buchstäblich er-greifenden Details: einem Fries aus Händen.
Kurz darauf zeigten sich tatsächlich die ersten verschneiten Berge am Horizont.
Ein ganzes Stück wanderte ich durch einen Wald, dessen Unterholz mit weißen Blüten bedeckt war - zauberhaft!
Kurze Trinkpause in Romanillos, wo mal wieder kein Lebewesen zu sehen war.
Dann eine längere Strecke durch flaches, von Landwirtschaft geprägtes Terrain - nicht sonderlich spannend.
Am frühen Nachmittag erreichte ich Miedes de Atienza. Hier und im sechs Kilometer entfernten Retortillo de Soria soll es gute Herbergen geben. Aber wo?
Das Rathaus: selbstverständlich geschlossen. Der Platz: menschenleer. Beim Durchstreifen der wenigen Straßen fand ich immerhin einen Menschen, der mir den ungefähren Weg zum ehemaligen Schulhaus wies. Daselbst: niemand, geschlossene Türen. Also zog ich weiter meine Kreise, bis ich den nächsten Menschen traf - und der erwies sich doch tatsächlich als Pilger, der kurz vorher die Herberge bezogen hatte. Dass ich das noch mal erleben durfte-!
Irgendwann tauchte auch ein lässiger Hospitalero auf - Stefano wohnt im selben Haus im Obergeschoss -, kassierte fünf Euro, warf den Boiler an und blieb noch ein wenig, um zu quatschen. Er sei aus Madrid hergezogen, schlage sich als Putzmann für eine Casa rural und als Pferdewirt durch, aber für seine Bude zahle er monatlich nur 150 €, und mehr als 1000 € brauche man in dieser Gegend nicht zum Leben. Es gebe unter den rund vierzig Bewohnern des Dorfes auch ein paar Leute in seinem Alter und sogar einige Kinder, dazu die beste Luft von ganz Spanien. Was also wolle man mehr?!
Ich hätte mir noch ein paar Tipps für die in Sachen Übernachtung schwierigen nächsten Tage gewünscht, aber damit konnte Stefano nicht dienen.
Beim Schlendern durch das Dorf hatte ich bald 50 % der männlichen Einwohnerschaft kennengelernt und wieder ein paar Schwätzchen gehalten. Klar, die Herren sitzen draußen und lassen es sich gut gehen. (Wo stecken ihre Frauen? In der Küche? In der Kirche?)
Um acht öffnete eine der beiden Bars des Ortes - die wenigen Besucher waren so stimmgewaltig wie ein ganzes Stadion voller Männer -, und da der Wirt auch noch eine kleine Tienda betreibt, konnte ich meine Vorräte für morgen aufstocken.
Am Abend gab es dann viel zu planen, denn mit der Provinz Soria betritt der Pilger erst den WIRKLICH einsamen und verlassenen Teil Spaniens. Für die nächsten Tage ist also mit echten Schwierigkeiten bei der Quartiersuche zu rechnen. Mein Compañero, der 70jährige Ross aus Brisbane, ist des Spanischen leider nicht kundig - aber ein solcher Camino-Aficionado, dass er bereits zum achten Mal aus Australien nach Spanien gereist ist!! Wie er bisher durch die Ruta de la Lana gekommen sein mag, ist mir ein Rätsel, aber er scheint Helfer geradezu magisch anzuziehen. Mit dieser seiner Qualität und meinen Sprachkenntnissen zusammen sollte es uns wohl gelingen, morgen irgendeinen Schlafplatz zu finden, beschlossen wir, und widmeten uns dann anderen Themen. Ein interessanter Typ, der erst 30 Jahre Lokführer bei der australischen Eisenbahn war und dann bis zur Pensionierung Aboriginee-Reservate gemanagt hat. Was Ross alles vom Outback zu erzählen hat, könnte ganze Bücher füllen. Aber er quatscht auch gern und viel in seinem schwer verständlichen Dialekt, so dass ich wieder nicht dazu kam, mein Tagebuch zu aktualisieren, ehe mir noch vor elf die Augen zu fielen.
Donnerstag, 18. April
Was für ein Tag! Abwechslungsreich und abenteuerlich!
Da mein Compañero noch im Dorf frühstücken wollte, machte ich mich allein an den Aufstieg nach Retortillo de Soria - wieder ein eiskalter, klarer Morgen mit einem wundervollen Panorama.
Mit dem heutigen Tag verlasse ich die Provinz Guadalajara, die so gut zu uns Pilgern ist: allein die Informationstafeln am Eingang zu jedem Dorf sind Gold wert, mit den wichtigsten Attraktionen, Telefonnummern, Angaben zu Herbergen und Stempelstellen.
Wenn du Guadalajara schon einsam fandest, dann wird Soria dir wie das Ende der Welt vorkommen, sagte mir ein Einheimischer: dort findet man kaum noch Menschen in den Dörfern.
Und so sah es dann auch aus, als ich den höchsten Punkt der Ruta de la Lana erreicht hatte.
Mit dem Übergang nach Castilla y León verwandelt sich das bescheidene Sträßchen in eine gut ausgebaute zweispurige Straße - für die fünf oder sechs Autos, die pro Tag hier durchkommen...
Retortillo de Soria wäre der Ort gewesen, wo ich alternativ hätte übernachten können - und es war der Ort, wo ich Auskünfte zu möglichen Quartieren für den kommenden Abend zu bekommen hoffte! Aber das Rathaus öffnet donnerstags nicht, das Hotel war zugesperrt, die Apotheke noch nicht offen und außer zwei altem Männern auf einem Hinterhof fand ich niemanden. Die Beiden waren zwar freundlich, konnten mir aber auch nicht mehr sagen, als ich schon wusste.
Am Ortsausgang, wo ich gerade mein Frühstück mümmelte, traf ich dann wieder mit Ross zusammen. Und dass wir gemeinsam weiter gingen, sollte sich als unser beider Glück erweisen.
Einer der Höhepunkte des ganzen Camino erwartete uns heute: der Cañón de Caracena. Aber wie großartig dieses Schlucht mit dem bescheidenen Flüsschen darin sein würde, hatten wir beide nicht geahnt. 6,5 Kilometer sind es bis zum nächsten Dorf am anderen Ende - hinterher waren wir uns einig, dass es die längsten aber auch die schönsten 6,5 Kilometer waren, die wir seit Langem erlebt haben.
Schon wegen der völligen Abgeschiedenheit war es gut, hier nicht allein unterwegs zu sein. Aber dazu kam noch die eine oder andere Herausforderung: Mehrere Male musste der Fluss durchquert werden - und da wäre ich ohne Ross' Wanderstöcke mit einiger Sicherheit baden gegangen. Die Kletterstellen bereiteten Ross wiederum große Schwierigkeiten, und da konnte ich ihm dann helfen. Aber allein für diesen Durchblick hätte sich die Mühe gelohnt:
Am Ende der Schlucht kauert - von unten aus gesehen - das Dorf Caracena:
Steinhäuser in warmen Erdtönen (die Hälfte verfallen oder eingestürzt), schmiedeeiserne Balkone, gepflasterte Gassen und mindestens eine, besser noch zwei Kirchen.
In die obere Kirche habe ich mich sofort verliebt, vor allem wegen der vierfach verdrehten Säule: In der christlichen Baukunst wie übrigens auch in jüdischen Synagogen wurden früher oft solche Fehler eingebaut als symbolischen Hinweis darauf, dass alleine Gottes Werk makellos und perfekt ist.
In einem Haus wurde renoviert, sonst rührte sich kein Leben. Leider auch nicht in der berühmten Bar von María Ángeles und Sebastiano. Dort sollte man unbedingt einkehren, hatte es geheißen, Maria werde zu vielen Themen einen Rat anbieten können, und manchmal gebe es auch Schlafplätze.
Dass in Sachen Schlafplätze nichts zu machen sei, hatte ich zwar schon beim elften Versuch am Telefon von María erfahren. Dass ihr Lokal bis einschließlich 18. April - also heute - Urlaub mache, hatte mir die Dame aber leider nicht verraten! Aus der Traum vom kühlen Bier, vom leckeren Eis und irgendwie vielleicht doch noch einem Schlaflager...
So blieb uns - Ross müde aber tapfer - nur die Möglichkeit, uns ins noch mal acht weitere Kilometer entfernte Fresno de Caracena zu begeben. Von einem einfachen Quartier im Rathaus - Matratzen, kaltes Wasser - hatten frühere Pilger berichtet. (Unnötig zu erwähnen, wie viele Versuche ich unternommen hatte, das Rathaus vorab telefonisch zu erreichen.)
Wir malten uns zum Spaß aus, wie die Einwohner Spalier stehen und uns jubelnd begrüßen, ja, sich geradezu darum streiten würden, wer uns aufnehmen dürfe. Doch sowohl in Carrascosa de Abajo wie auch in Fresno herrschte wieder mal tote Hose. Der Bürgermeister wohne am Ende des Ortes, ihn sollten wir fragen, riet uns ein Arbeiter. Gesagt, getan.
Doch leider, leider sei nichts zu machen, bedauerte der gute Mann, vor Covid habe es tatsächlich eine einfache Herberge gegeben, aber seitdem... Es schien ihm etwas unangenehm zu sein, und die geschlossene Bar in Caracena hielt er geradezu für ein Unding.
Und nun?
Die nächste Übernachtungsmöglichkeit sei in San Esteban de Gormaz, tröstete der Alcalde uns, knapp 20 Kilometer entfernt.
Aber nicht mehr abends um Viertel nach sieben erreichbar, gab ich zu bedenken. Was wir denn jetzt bloß machen sollten?! (Ach, die Tränendrüse wurde nach Kräften ausgequetscht...)
Der langen Rede kurzer Sinn: Tomás beschloss, uns kurzerhand nach San Esteban zu fahren, und sein erwachsener Sohn kam gleich noch mit. Beide betonten, dass sie derlei zum ersten Mal machten, und ich überschüttete sie in unser beider Namen mit Lobpreis und Danksagungen. Ah, bah, alles normal!
Nach langem Suchen - über eine Pilgerunterkunft bei der Gemeinde, beim Roten Kreuz oder im Sportzentrum wusste niemand etwas, und die zwei Hostels des Ortes waren doch tatsächlich ausgebucht - setzen unsere Wohltäter uns bei der Pension „Rincón de Elena“ ab (zufällig genau der Pension, die in der Pilgerwegbeschreibung auch empfohlen wird). Ross spendierte uns, äußerst dankbar für meine Gesellschaft und Unterstützung, zwei Zimmer, und ach, ging es mir dann gut!
Auf dem Bett liegend verspeiste ich genüsslich so ziemlich alles, was ich mitgebracht hatte, unter anderem eine halbe Tortilla española mit Tomaten und eine Tafel Schokolade. Schon mal gut. Aber dann sah ich auch noch, dass das Bad über eine Wanne und sogar einen Stöpsel verfügt! Bis fast Mitternacht aalte ich mich also im warmen Wasser - und wunderte mich nur, dass ich nach all diesem Wohlleben nicht einschlafen konnte -! (Woran sicher auch die immer viel zu prallen, brettharten spanischen Kopfkissen nicht ganz unschuldig sind.)
Morgen stehen, wie heute auch, 32 Kilometer an. Ob mein netter australischer Kollege sich die wirklich antun sollte?!
Aufbruch aus Fuentes im ersten Sonnenlicht, vorbei an einigen Lagunen.
Und immer weiter auf dem Woll-Weg, der eigentlich Lammrücken- oder Hammelbraten-Weg heißen müsste, weil kein Mensch sich mehr für die Wolle interessiert.
Und von glücklichen Schafen kann man auch nicht immer reden: manchmal findet man sie zu Dutzenden zusammengepfercht auf einem Bauernhof.
Dafür aber von einer glücklichen Peregrina. Als ich bei einem späten Frühstück meine letzten Madalenas verspeiste, fiel mir auf, dass auf der Tüte die Kontaktdaten der Bäckerei standen. Also schickte ich auf gut Glück rasch eine SMS, dass dies die besten Madalenas gewesen seien, die ich je gegessen hätte. (Stimmt: ich bin, wie gesagt, kein Fan, aber die waren deutlich leckerer als das eingeschweißte Fabrikzeug, das man hier sonst oft bekommt.) Postwendend kam die Antwort:
„Nos alegramos mucho que te gustasen
Muchas gracias por tus palabras.
Vor allem aber begeisterte ich mich an diesem kurzen Wandertag (nur 22 km bis Cuenca) wieder am Wechsel der Kulissen. Manchmal kommt es mir wirklich ein großes Landschaftstheater mit ständig neuen Bildern vor.
Dafür gab es heute tagsüber wenig Kontakt mit Menschen. Nur ein alter Mann brachte mal wieder sein Staunen über mein Tun zum Ausdruck. (Warum komme ich eigentlich fast ausschließlich mit Männern ins Gespräch?!)
Am späten Mittag dann der erste Blick auf Cuenca. Himmel - DAS soll ein Weltkulturerbe sein?! Eine monotone, aus dem Boden gestampfte Reißbrettsiedlung, wie man sie überall finden kann.
Aber nach einem halbstündigen Marsch durch die Trabantenstadt zeigten sich schon vertrautere, wenn auch keineswegs spektakuläre Bilder.
In der Herberge empfing mich der freiwillige Hospitalero Luís, trug minutiös in makelloser Druckschrift meine Daten ins große Buch ein, versorgte mich mit Hinweisen für die nächsten Etappen (und, auf Anfrage, für die besten Eisdielen der Stadt) und schickte mich dann los.
Die Altstadt liegt auf einem Hügel, der von zwei Flüssen umschlossen wird. Für den besten Überblick kraxelte ich erst mal auf einen gegenüberliegenden Berg - und plante gleich, zur blauen Stunde wiederzukommen: ein sensationell schöner Blick!
Dann der eigentliche Stadtbummel, und ich kann nur sagen: zwei Tage hätten nicht gereicht, all die Wunder dieses Ortes zu erkunden. Eine Kirche reiht sich an die andere, dazwischen Klöster, Konvente und Seminare.
Der Höhepunkt aber ist die Kathedrale. Ich habe wirklich schon viele Kirchen besucht - aber selten eine, die so mit Kunstschätzen gefüllt ist, ohne dabei geschmacklos überladen zu wirken. Selbst die Sakristei ist so prächtig wie ein Thronsaal; dann gibt es noch einen Kapitelsaal, eine „versunkene Kapelle“ und Vieles mehr.
Aber auch die Gassen der Unter- und Oberstadt sind farbenprächtig.
Als ich nach einer Stunde aus der Kathedrale trat, waren allerdings die Sonne verschwunden und die Temperatur deutlich gefallen, Regenschauer und eine kalter Wind vertrieben die Touristen schnell aus dem Straßenbild. Kein Gedanke mehr an ein Eis! Auf dem Rückweg zur Herberge machte ich noch ein paar - nein, wieder viel zu viele - Einkäufe, und dann gab's erst mal ein leckeres Abendessen im Schlafsaal – perfekt!
Netterweise hatte ich heute sogar mal Gesellschaft, und so kam fast wieder das Pilgerfeeling aus dem letzten Sommer auf: Dennis, ein Mittsiebziger aus England, und Ángel, 18, aus Valencia. Ein junger Mann mit großem Appetit: Was er sich als Picknick vorbereitete, entspricht ungefähr meinem Bedarf an Sandwiches für vier Tage!
Mit Ángel kam ich dann tatsächlich auch noch ins Gespräch, nachdem er sich von seinen Kopfhörern und seinem Tagebuch losgerissen hatte. Unsere erste Begegnung in Monteagudo war ja nur kurz gewesen, und da er von dort aus bis Cuenca laufen wollte, hatte ich nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Aber ungeübt gleich 45 Kilometer rennen zu wollen, ist eben keine sonderlich schlaue Idee, und so brauchte er prompt wegen Kniebeschwerden einen Pausentag.
Nun, ich bin gespannt, ob er es jetzt doch ein bisschen ruhiger angehen lässt und wir uns in der nächsten Herberge wieder treffen. Laufen möchte ich allerdings lieber für mich allein.
Dienstag, 9. April
Die Herren pennten beide noch, als ich mich um Viertel vor acht aus dem kalten Haus schlich.
Das Mini-Öfchen hatte noch nicht mal über Nacht meine Wäsche getrocknet, und mit vier Grad Außentemperatur hatte ich auch nicht gerechnet. Dazu gab es einen eisigen Gegenwind aber auch einen wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Und wieder mal 12 oder 13 km auf Asphalt. Nicht sehr spannend.
Ich hatte vor, im nächsten Ort eine Bar aufzusuchen und etwas Heißes zu trinken, aber die Dörfer unterwegs wirkten eins verlassener als das andere. Offenbar waren alle Menschen gerade mit dem Auto unterwegs. (Wofür sie nun gar nicht schwärmt: wenn es auf der Straße lärmt!)
Ab Mittag wurde es etwas wärmer und auch landschaftlich wieder interessanter. Bis auf eine Frau und einen weit entfernten Schäfer bekam ich allerdings nicht einen einzigen Menschen zu sehen, geschweige denn zu sprechen.
Eine bizarre Sehenswürdigkeit ist Villabilla, ein verlassenes und dann auch schnell komplett verfallenes Dorf – wie eine Kulisse für einen Katastrophenfilm.
Danach wieder viel einsame Landschaft, aber die Farben sind einfach traumhaft schön: creme, ocker und rostbraun in allen Schattierungen, dazwischen saftiges grün, und darüber spannt sich ein knallblauer Himmel.
Mein Tagesziel war Villar de Domingo García, im Winter 70 Einwohner, im Sommer doppelt so viele. Darüber sprach ich mit der Apothekerin, María Angustias Romero, bei der ich den Herbergsschlüssel abholen sollte (eine neue Variante!). In manchen Dörfern in dieser Gegend wohnen nur noch zehn, fünf oder gar ein, zwei Menschen. Wenn sie demnächst in den Ruhestand gehe, werde auch niemand ihre Apotheke übernehmen, sagte die Frau - wieder ein Serviceangebot weniger. Schade, aber aufs große Ganze gesehen ein ganz normaler Entwicklungszyklus von Werden und Vergehen, fand sie.
Die Herberge befindet sich im ehemaligen Schulhaus: sehr klein, etwas angesammelt, aber wohl durchdacht: Da es im Ort keine Geschäfte (mehr) gibt, stehen eine Mikrowelle und Fertigmahlzeiten bereit.
Als ich mein Bett bezog, stand plötzlich der Apothekersgatte in der Tür: Die Bar sei doch jetzt geschlossen, und für den Fall, dass ich nicht genug zu Essen dabei hätte: ein Baguette, eine Dose Leberpastete, Waffelkekse, drei Bananen, Cola und Sprite.
Wie rührend!
Mit den kalten Getränken konnte ich übrigens kurz darauf den nächsten Peregrino glücklich machen: nicht etwa Ángel, der offenbar wirklich noch ins zehn Kilometer entfernte Torralba weitergegangen ist (was ich auch kurz erwogen hatte), sondern der alte Herr, Dennis, der eigentlich nur eine kurze Etappe hatte laufen wollen und entsprechend groggy war.
Wie gut, dass eine halbwegs windgeschützte Bank vor dem Haus steht - die beste Art, den Abend zu verbringen!
Mittwoch, 10.04.2024
Die Sonne hat sich über die Hügel geschoben und macht sich daran, den Nachtfrost zu vertreiben; ein paar lange Schattenfinger greifen noch nach dem Tal. Ein Kuckuck ruft, die Lerchen jubeln, ein Fuchs lugt um die Ecke, ehe er verschwindet, eine Wachtel fliegt schwerfällig auf, und zwei Rehe beenden bei meinen Anblick fluchtartig ihr Frühstück. Kein menschliches Geräusch ist zu hören, mit Ausnahme meiner eigenen, aber natürlich zeigen die frisch gepflügten Felder und die Mandelplantagen von Landwirtschaft.
Ein traumhafter Morgen.
Warum nur tun wir alles, um diese einzigartig schöne Welt zu zerstören?! Ich denke oft darüber nach, während ich so vor mich hin gehe. Auch wenn mein Glashaus jede Menge zerschlagener Scheiben hat: Ich bin mit dem Flugzeug gekommen, ich benutze ständig mein Smartphone und trage so zum gigantischen Stromverbrauch des www bei. Da sind die Wiederverwendung von Plastiktüten und der geringe Fleischverzehr nur Tropfen auf dem heißen Stein. (Über einen Solchen würde mein Hinterteil sich übrigens sehr freuen: der Stein auf dem ich gerade sitze, ist ausgesprochen kalt!)
Aber wenn vielleicht jeder seine Tropfen beisteuern würde...?!
Naiv, ich weiß.
Kurze Zeit später flutet eine Herde Schafe den Weg (der ausgerechnet in dieser Gegend als Wanderweg markiert ist). Ich grüße den Schäfer und frage nach seinem Ergehen. „Gut. Arbeit eben“, gibt er zur Antwort. Etwa 800 Schafe hüte er, erfahre ich dann, aber natürlich nicht seine eigenen Tiere. Und was ich so treiben würde, will er wissen. Ah, auf dem Pilgerweg nach Burgos! Wie lange das dauere, eine Woche?
(Er kommt offenbar nicht so weit herum...)
Und ob ich draußen schlafen und in Bars essen würde, erkundigt er sich weiter. Ich: Nein, ich schlafe in Häusern und bringe mir mein Essen mit. Das tue er auch, sagte der Schäfer, abends um halb acht gehe er nach Hause zum Abendessen, und seine Brotzeit habe er dabei.
Meine Kamera baumelt zufällig gerade vor meinem Bauch, und rein zufällig löst sie während unseres Gesprächs dauernd aus... Auch wenn er nicht so aussieht - der Mann ist wahrscheinlich zehn Jahre jünger als ich und verdient ein Zehntel von meinem Gehalt - höchstens.
Die heutige Etappe (25 km) ist landschaftlich wieder eine große Freude und wird zudem durch einige recht schmucke Dörfer aufgelockert, die aber alle fast menschenleer sind. Zuerst Torralba mit einem schmucken Dorfplatz in weiß-gelb und schmiedeeisernen Fenster- und Balkongittern.
Der nächste Ort heißt Albalate de las Nogueras und liegt am Fuß der Sierra de Bascuñana.
Hier finde ich auch ein wahres Shopping-Paradies: ein winziges, als solches kaum erkennbares Eck-Lädchen. Das draußen angekündigte Eis gibt es tatsächlich - aber nur wenn man eine ganze Kiste Magnum abnimmt-! Stattdessen erwerbe ich für 40 Cent je eine Gurke, Tomate und Möhre.
Auch in Albalate unternehme ich wieder einen Versuch, die romanische Kirche zu besichtigen, die den Dorfplatz beherrscht. La Maribel hüte den Schlüssel, sagt man mir, einfach fragen im Haus am Spielplatz. Auf mein Klopfen erfolgt keine Antwort, obwohl die Tür offen steht, also setze ich mich auf eine Bank und warte.
Da kommt ein Männlein mit einem Stock und einem Eimer angewackelt und gießt mühsam die dürren Pflänzchen in der Mitte des Platzes. Ich biete meine Hilfe an und hole Wasser vom Brunnen, während der Hobbygärtner erleichtert Platz nimmt. „Ich habe all die Blumen selbst gepflanzt“, verrät er, „und sogar einen Kirschbaum. Darum kümmert sich ja sonst niemand.“
Und wie es der Zufall so will, ist er der Gatte der Maribel, die kurz darauf erscheint und mich bereitwillig in die Kirche führt. „Wunderschön, nicht?!“, findet sie.
Naja. Ich bin jedes Mal enttäuscht, wenn das Innere von romanischen oder gotischen Kirchen sich als Stilmix entpuppt. Aber das höre ich immer wieder - und auch von der Maribel: Während des Bürgerkriegs haben die Sinvergüenzas viele Kirchen zerstört oder zumindest alles rausgeholt und abgeschleppt, Kunstwerke, Reliquien, Orgeln. Alle Orgelemporen sind leer, deshalb gibt es auch keine prächtige Kirchenmusik!
La Maribel spricht noch lange und mit Gefühl über den Zustand der Welt, die Jugend ohne Respekt und Disziplin (ihre eigenen Enkel inbegriffen) und die schrecklichen Kriege, die sie zum Weinen bringen. Endlich: So, aber jetzt müsse sie das Mittagessen kochen! Ob ich mit ihnen essen wolle? Ich danke gerührt, lehne aber ab, denn ich habe kurz vorher während der Wartezeit mein Picknick verzehrt - noch immer das geschenkte Baguette und die Bananen vom Vortag. (Leberpastete und Waffelkekse habe ich als Spende für nachfolgende Pilger hinterlassen...)
Albalate de las Nogueras ist wirklich hübsch, mit einem liebevoll angelegten Park unten am Fluss, einer mittelalterlichen Brücke und jeder Menge uralter Weinkeller in Höhlen.
Jedes Dorf in dieser Region verfügt über hundert oder mehr solcher Höhlen und alte Bewässerungsanlagen. Nur ausgedehnte Weinfelder sieht man nicht, anders als in der Umgebung von Alicante. Dafür gibt es kleine Gärten in ausgewählten höheren Lagen.
Gegen halb vier laufe ich in Villaconejos de Trabaque ein, wo ich vor der Herberge mit dem Hospitalero verabredet bin. Dieser Ort ist berühmt für seine Gastfreundschaft Pilgern gegenüber, und ich bin gespannt auf alles, was da kommen möge.
Der kleine Spanier Ángel übrigens kommt nicht. Nach ihm hatte ich mich heute Vormittag schon in Torralba erkundigt. Ja, der sei am Vorabend gegen sechs durch den Ort gelaufen. Hier gebe es ja keine Herberge. Aber wenn ich einen Schlafplatz benötige, könnte ich jederzeit zu ihm kommen, sagte mein freundlicher Gewährsmann. (Und das war wirklich nur freundlich gemeint, dessen bin ich sicher!)
Also, das Engelchen setzt seine Flügel ein und hetzt weiter den Camino entlang.
Dafür humpelte am Abend aber noch Dennis aus Liverpool heran, völlig groggy von des Tages Müh’. Da hatte ich schon einige Stunden mit meinem persönlichen Führer Paulino hinter mir.
Ein bemerkenswerter und sehr gebildeter alter Herr (80+), dem es riesige Freude machte, mir sein Dorf und Umgebung zu zeigen und mich über alles Mögliche zu belehren. Je länger der Tag voran schritt, desto häufiger herzte und küsste er mich, und am liebsten hätte er mich noch einen weiteren Tag da behalten, um mir weitere Sehenswürdigkeiten zu präsentieren. Aber das wäre mir in jeder Hinsicht zu viel geworden...
Schnell noch einen Cafecito in der Bar, und dann ging es weiter: zu einem Kloster in den Bergen, San Miguel de la Victoria, wieder mit einer leeren Orgelempore; und die Statue des Gekreuzigten, die ich bewundern sollte, riss mich ebenfalls nicht vom Hocker.
Dafür aber das Geier-Ballett draußen! Mit dem bloßen Auge konnte man sehen, wie die Jungen hungrig auf den Felsvorsprüngen hockten und ihre Eltern erwarteten.
Priego, einst ein relativ bedeutendes Dorf mit Stadtmauer und riesiger Kirche, stand auch noch auf der Agenda, und überall rief Paulino den Leuten Grüße zu. Auch den Priester kennt er natürlich und stellte stolz seine deutsche Pilger-Trophäe vor.
Bis wir zurück an der Herberge waren, hatte es acht Uhr geschlagen. Mir blieb gerade noch Zeit für eine Dusche, und dann wurden Dennis und ich mit dem Auto zur zeremoniellen Pilgerbegrüßung und Fiesta abgeholt: in einer Cueva-Bodega, wie sie so typisch für diese Gegend sind!
Erst lernten wir alles über die Bau- und Funktionsweise dieser Weinkeller (die früher ständig aufgebrochen und ausgeraubt wurden), dann ging es in Pepes Höhle. Pepe de la Lana ist die berühmteste Figur des Pilgerwegs, Schlachter, Bauer, Winzer, Tankstellenbetreiber, Notfall-Taxifahrer und Präsident der Freunde des Jakobswegs in der Provinz Cuenca. Ein bulliger Typ mit schwarz-grau-melierten Locken, ganz anders gestrickt als Paulino, aber genauso herzlich und großzügig.
Ein ganzer Jamón Serrano und verschiedene Würste aus Pepes Produktion wurden aufgetischt, würziger Manchego-Käse, knuspriges Brot und eine Schüssel Salat mit Tomaten und Thunfisch, in die alle einfach mit ihren Gabeln hineinlangen. Vorher allerdings führte Paulino Dennis und mich, bewaffnet mit einer Ölfunzel und einem Krug, in die Tiefen des Höhlenkellers, wo ideale Bedingungen für den Wein herrschen: dauerhaft um die zwölf Grad Lufttemperatur, kein Licht, ein fester Boden, der Erschütterungen verhindert, und jede Menge Fledermäuse, die alle Mücken fressen. Paulino erzählte weiter, wie sie als Kinder hier mit nackten Füßen die Trauben gestampft hätten und kopfüber in die riesigen Tonbottiche gehängt worden seien, um die von innen abzubürsten. Dann durfte Dennis Wein zapfen - mittlerweile allerdings aus einem Edelstahlbehälter -, und das Gelage begann.
Als Schwarzbrenner betätigt sich Pepe auch noch, also gab es zum Dessert allerlei Hochprozentiges aus Kaffee und Mandarinen (das allerdings ohne mich!), und dann wurden noch Geschenke in Form von Kreuz-Anhängern überreicht, Fotos gemacht und warme Worte gesprochen.
Man möchte uns als Pilger wertschätzen und ehren, uns in allem unterstützen und uns danken dafür, dass wir unsererseits alles Gute, das wir hier und anderswo auf dem Weg erfahren haben, weiter in die Welt tragen und dort verbreiten. Wenn das kein Camino-Geist ist, weiß ich es auch nicht!
Jedenfalls war's in jeder Hinsicht ein unvergessliches Erlebnis, und dabei habe ich bestenfalls die Hälfte davon erzählt!
Donnerstag, 11. April
Nach der Orgie in der Bodega hatte ich keine Lust, mir den Wecker zu stellen, und da Paulino mir in der Herberge „das beste Zimmer!“ hatte zukommen lassen, war ich auch gänzlich ungestört. Abmarsch also ausnahmsweise erst um Viertel vor neun - aber immer noch früh genug, um das Licht zu genießen!
Und siehe da: ein Pilger voraus!
Es war natürlich Dennis, der sich etwas früher auf den Weg gemacht hatte. Ein etwas herber, nicht allzu gesprächiger Mensch, aber zum - vermeintlichen - Abschied in der Herberge hatte er noch hervorgebracht: „I wonder If you might be interested in one of my Camino photo books...“ Das bestätigte ich natürlich und bekam sogleich einen Link geschickt. Mal sehen, ob mich das inspiriert, selbst auch endlich mal mit meinen Buchprojekten zu Potte zu kommen -!
Wieder viel landschaftliche Abwechslung auf wenigen Kilometern - und plötzlich ein ganzes Geschwader Geier!
Da kann man natürlich nur strahlen.
Aber bald verging mir das Lachen: Gewiss, Paulino hatte mich gewarnt, dass der Río Guadiela derzeit wegen des vielen Regens im März nicht gefurtet werden könne. Stattdessen empfahl er mir 15 km Landstraße. Aber ich wollte es wissen – voilà: die Furt war komplett geflutet! Und obwohl ich ja durchaus abenteuerlustig bin, gehört ein hüfttiefes Flussbad mit Gepäck nicht mehr dazu.
Zum Glück verhalf die Wander-App Komoot mir zu einer Umgehung: vier Kilometer zusätzlich zu den ohnehin schon avisierten 29, aber immer noch viel besser als die Asphalttreterei. Und schöner war diese Route allemal.
Meine Mittagspause machte ich in dem sonnendurchglühten und mal wieder menschenleeren Dorf Albendea.
Offenbar hatte auch hier sich jemand die Mühe gemacht, ein paar Blümchen zu pflanzen, die mit dem knallblauen Haus kontrastieren.
Und plötzlich fiel mir noch ein wunderbares Fotomotiv ins Auge: ganz am anderen Ende des Platzes saß vor ihrem Haus eine winzige alte Frau, die ein halbes Dutzend Katzen mit Putenbrustaufschnitt fütterte. In dem Moment, wo ich verstohlen mein Teleobjektiv in Stellung gebracht hatte, blickte sie auf, sah mich und rief etwas. Äußerst beschämt ging ich zu ihr, während die Tiere sich davon machten, aber sie wollte nur wissen, ob ich das schöne Motiv hatte einfangen können. Wenn ich morgens oder abends käme, könnte ich sogar zwölf oder mehr Katzen sehen!
Ich wollte aber lieber die wunderschöne alte Frau sehen, mit Kopftuch, einem dünnen Zopf und herrlich klaren Augen. Und wieder passierte das mit der von selbst auslösenden Kamera... (Wenn man vorsichtshalber ein Weitwinkel und eine kleine Blende wählt, ist die Trefferquote nicht schlecht!)
Währenddessen erzählte die Frau, dass sie schon 89 sei, aber Gott liebe sie, denn es gehe ihr gut. Die Tiere seien ihr Ein und Alles, während sie von Menschen nicht viel halte. Zwei gute Männer habe sie gehabt - und hingebungsvoll umsorgt! -, beide seien tot, wie auch ihr geliebter Hund, der mit 14 Jahren dahingegangen sei. Der zweite Mann habe ihr so viel Geld hinterlassen, dass sie sich eine Wohnung in Madrid habe kaufen können, im ersten Stock, jawohl!, und dort wohne sie auch. In Albendea habe sie zwar noch das Haus, aber hier sei ja nichts los (verächtliche Handbewegung über den Platz)!
Nach zwanzig Minuten befand sie, nun habe sie mir alles erzählt, was es zu erzählen gebe, und entließ mich gnädig.
Wieder eine wunderbare Begegnung!
Valdeolivas, das nächste fast leere Dorf, wie der Name schon sagt, ist von Olivenhainen umgeben.
Zum Glück kam ich auf die Idee, in der erstaunlich gut sortierten Bar-Tienda noch ein paar Fressalien einzukaufen, denn an meinem Zielort stellte sich heraus, dass der Mini-Laden nur vormittags geöffnet hat. So hatte ich die letzten Kilometer wieder einiges auf dem Buckel und geriet ganz gut ins Schwitzen. Aber wie immer wurde das Auge für jede Mühe reichlich entschädigt.
Endlich: Salmerón! Den Schlüssel für die Herberge sollte es in einer nahegelegenen Bar geben, hatte Bürgermeister Óscar mir am Telefon gesagt (natürlich war die Bar bei meiner Ankunft geschlossen), und sonst bei Mariluz Ocaña. Die telefonierte mir ein hilfreicher Passant herbei („eine gute Freundin von mir“ - klar, bei 70 Einwohnern kennt wohl jeder jeden), und so kam ich in den Genuss eines repräsentativen alten Stadtpalais ganz für mich allein.
Natürlich war es wieder ziemlich kalt in dem düsteren Gemäuer, aber ein Gerät mit künstlichem Feuer erzeugte zumindest eine Illusion von Wärme, eine heiße Dusche gab's auch, und so konnte ich mir einen gemütlichen Abend machen.
Freitag, 12. April
Eine beschwerliche Bergetappe stand mir heute bevor, hui: Ich musste doch glatt 400 hm am Stück erklimmen!
Auf diese Weise war die morgendliche Kühle aber schnell vergessen, und die eine Stunde Aufstieg wurde belohnt mit einem entspannten Bummel durch einen Wald auf 1200 m Höhe. Nicht gerade das, was wir uns unter Wald vorstellen, aber immerhin viel Grün und jede Menge Steineichen voller Flechten, die auf viel Feuchtigkeit hindeuten. Leider wandelt man aber nicht auf lauschigen Pfaden, sondern die üblichen breiten Schotterpisten.
„Coto privado de caza“ ist das wahrscheinlich meistgedruckte Schild in ganz Spanien - man könnte meinen, das Land bestehe aus herumballernden Karnivoren. Aber hier oben lohnt die Jagd wenigstens: riesige Hirschkühe, ein Wildschwein und eine Art Bergziegen sah ich - zumindest flüchtig - neben dem üblichen Kleingetier.
In Viana de Mondéjar sollte es eine Herberge geben, hatte ich gelesen, aber nirgends standen Telefonnummern. Ich ging also auf gut Glück in das Dorf (drei Bewohner, die gemeinsam an einem Haus herumbauten), fand einen Zettel mit Kontaktdaten an der Tür, hatte sogar ein Netz (!) und wurde nach einer halben Stunde eingelassen, von einem wortkargen Bauarbeiter, der mit seinem Kleinlaster vorfuhr - diesmal leider ohne allerlei Köstlichkeiten mitzubringen...
Die Herberge ist die modernste, sauberste, die ich bisher hatte, sogar mit kompletter Küche - und der letzte Pilger war vor einem Monat hier!
Die Attraktion des Ortes sind die Tetas de Viana, also zwei kuppelförmige Berge („Titten“), die ich abends noch erklettern wollte. Dabei leisteten mit zwei spanische Rentnerinnen Gesellschaft, so dass ich also auch heute noch zu meiner Unterhaltung kam.
Oben: großartige Weitsicht, kaum Wind - genau der richtige Ort, um sich ins Gras fallen zu lassen und in den Himmel zu gucken.
Am liebsten hätte ich von hier oben den Sonnenuntergang genossen, aber der Aufstieg war stellenweise kraxelig und sehr geröllig, und das wollte ich mir nicht in der Dämmerung antun. Also kehrte ich in meinen Herbergspalast zurück und futterte meine Vorräte auf. Morgen wird mein Rucksack federleicht sein!
Sonnabend, 13. April
Nachtleben in Cifuentes. Zum Glück ist es nicht so warm, dass man mit offenem Fenster schlafen müsste, denn von draußen wummern die Bässe in mein Zimmer, immer wieder akzentuiert von Gesprächssalven.
Die Suche nach der Pilgerherberge erwies sich mal wieder als extrem mühevoll, obwohl auf dem Weg nach Cifuentes ein Landcruiser neben mir anhielt und ein Typ mit Glakuhila-Frisur (Variante von Vokuhila: vorn Glatze) mich nach kurzem Geplauder informierte, es gebe in Cifuentes eine Unterkunft beim Schwimmbad und Sportplatz, und die Schlüssel erhielte ich in der Bar Salmerón.
Die hatte natürlich ab Mittag zu, ebenso wie die Touristeninformation, und das Rathaus hatte ich gestern schon ein Dutzend mal vergebens anzurufen versucht. (Im Nachhinein stellte sich heraus, dass in der offiziellen Unterkunftsliste eine Ziffer der Telefonnummer vertauscht war-!)
Also marschierte ich im Zentrum zum nächstbesten Hostal: geschlossen. Aber telefonisch bekam ich sofort ein wunderbares, sauber duftendes Zimmer mit eigenem Bad und Balkon zum Spottpreis von 22,50 €. Das kann man sich wirklich mal gönnen!
Vor allem nach einer zwar nicht langen aber heißen Wanderung, in Spitzenzeiten waren es heute sicher 28 Grad. Wohl der, die einen Sonnenschirm hat!
Morgens sah das noch ganz anders aus; es begann mit einem Spaziergang durch einen lauschigen Wald aus Ilex, Kiefern und Steineichen.
Erster Zwischenstopp war Trillo am Fluss Tajo. Kurioserweise boten sich von der Brücke aus nach beiden Seiten komplett unterschiedliche Bilder - auch in botanischer Hinsicht.
Hier gab’s auch die letzte Einkaufsmöglichkeit vor dem Wochenende.
Und wie ich so beim Spätstück auf den Stufen vor dem Rathaus saß und alles mit meinem Ciabatta vollkrümelte, sah ich eine junge Nonne im Anmarsch auf die Kirche – hurra, DIE Chance, ohne lange Schlüsseljagd hineinzukommen: Nuestra Señora de la Asunción in Trillo - auch wieder mit einem bedeutenden Altarbild.
In Cifuentes bot sich dann sogar mal eine ganz regulär geöffnete Kirche - und zudem eine, deren gotischer Innenraum nicht im Lauf der Jahrhunderte verschlimmbessert worden war – endlich! -: El Salvador. Dazu gehört auch ein herrliches Portal aus dem 13. Jahrhundert.
Auch sonst prunkt der Ort mit jeder Menge sakraler Baukunst, und trotzdem herrscht der unvermeidliche Niedergang: geschlossene Lokale allerorten.
Die Jugend des Ortes (immerhin, es gibt die hier noch!) zeigte sich von all dem unbeeindruckt und starrte fasziniert auf ihre Handies.
Die Musik dröhnt immer noch, aber ich gehe trotzdem schlafen.
Sonntag, 14. April
Ach, was war das für eine Wonne, in einem warmen, trockenen Zimmer zu schlafen, mit duftendem Bettzeug und dicken Handtüchern im eigenen Bad! Auf der Terrasse vor meinem Fenster trocknete zudem die Wäsche im Ruckzuck, so dass ich keine komplizierten Klimaanlagen-Konstruktionen bauen musste wie etwa in Salmerón.
Das Wetter scheint sich allmählich zu ändern: man sieht wieder Wolken am immer noch knatschblauen Himmel. Eine tolle Kombination mit Mohn und anderen Blüten.
Der Weg am Morgen: ein welliges Höhenprofil, die üblichen breiten Pisten abseits der Straßen.
Auf den ersten Höhepunkt des Tages hatte mich glücklicherweise die engagierte Mitarbeiterin der Touristeninformation in Cifuentes aufmerksam gemacht: illusionistische Malerei an den Häusern von Moranchel. Einen kleinen Vorgeschmack auf Kunst gibt es schon am Weg dorthin.
Kaum im Dorf angekommen, wurde ich gleich von einem Einheimischen angesprochen und zum ersten Bild geführt: ein Esel mit allerlei sinnigen Sprüchen dazu. Das nächste Haus ist eher blumig-zart dekoriert.
Hier wohnt, so erfuhr ich, der Vater der Künstlerin. Sie selbst lebt inzwischen als Kunstlehrerin in Guadalajara, wollte aber zur Verschönerung ihres Heimatdorfes beitragen. Und darauf sind die Bewohner auch ordentlich stolz!
Das Beste vons Janze: eine Bäckerei mit Preisen von Anno dazumal (noch in Pesetas) und sogar einem „Geöffnet“-Schild an der Tür. Es soll schon ahnungslose Touristen dazu verleitet haben, tatsächlich eintreten und etwas kaufen zu wollen!
Überall im Dorf öffneten sich die Türen, weil die Bewohner auf einmal etwas ganz Dringendes zu erledigen hatten, während ich herumschlenderte, und das rief auch den Vater der Künstlerin auf den Plan.
Er wollte sowieso gerade seinen täglichen Vormittagsspaziergang machen („Das hält mich gesund!“) und bot an, mir weitere versteckte Malereien zu zeigen. Aber gern! Wirklich bemerkenswert, wie viel Farbe die Künstlerin in das sonst eher triste Ortsbild gebracht hat!
Eine gaaaanz genaue Beschreibung des Weges zum nächsten Dorf bekam ich auch noch, und dann verabschiedete ich mich herzlich, erfreut von dieser Begegnung und den einfachen Mitteln, eines der verlassenen Dörfer wieder attraktiver zu gestalten. (Tatsächlich gibt es dort auch ein paar Neubauten von Kindern oder Enkeln, die zwar in der Stadt wohnen, am Wochenende oder in den Ferien aber gern in die alte Heimat kommen.)
Schon war es Mittag geworden, und ich hatte erst sieben Kilometer geschafft - und vor lauter Kunst vergessen, meine Cantimplora, die Wasserflasche, aufzufüllen! Leider war es noch mal so weit ist es bis Las Inviernas, und es fühlte sich deutlich NOCH weiter an.
Irgendwann erspähte ich dann auf dem Hügel vor mir ein paar Ställe und Wellblechbauten - das sollte doch nicht etwa alles sein?!
Aber dann erstreckte sich hinter der Kuppe doch noch ein Dorf: Las Inviernas.
Kaum war ich um eine Ecke auf die Plaza Mayor eingebogen (jeder Ort hat eine Plaza Mayor und die meisten auch eine Plaza oder Calle Constitución), tobte auf einmal das wilde Leben! Lauter exzellent gelaunte Männer saßen vor einer Bar im Schatten, vor sich ihre Bierchen und das übliche Knabberzeug (auf dem Boden häuften sich also Schalen von Sonnenblumenkernen), und ich konnte kaum „Buenas tar-“ sagen, da hatte mir einer schon den Rucksack abgenommen und mich auf die Bank neben sich gezogen. „Wer bist du, was machst du, was willst du trinken?“ Großes Hallo: „He, Bürgermeister, komm mal her, das ist Cristina aus Deutschland, die von Alicante aus hierher gelaufen ist!“ Weitere Tische wurden gebracht, ein halbes Dutzend Frauen setzte sich dazu, die ganze Geschichte musste von neuem erzählt werden.
Einer der Männer hatte seinen kleinen Sohn dabei, den ich als Fotografen engagierte. Seine Talente scheinen eher auf anderem Gebiet zu liegen, denn das Kerlchen brauchte fünf Anläufe, um ein paar schiefe, wenig schmeichelhafte Bilder zu produzieren, aber die zeigen zumindest die Bombenstimmung.
„Hast du denn unsere Kirche schon gesehen?“, hieß es dann, und mein Nachbar zückte gleich sein Handy, um mir Bilder vorzuführen. Also ging ich noch die Kirche anschauen und meine Flasche auffüllen, riss mich dann aber von der fröhlichen Runde los. („Bis Mandayona willst du noch? Das ist aber weit!“)
Das war aber auch ganz gut, denn nach einem längeren Anstieg wanderte ich die nächsten zwei Stunden oder mehr über eine pfannkuchenplatte Meseta.
Das Ackerland in dieser Gegend ist furchtbar steinig, überall liegen die Brocken haushoch aufgetürmt - oder werden gleich zu Häusern verarbeitet.
Einzige Abwechslung: die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Barcelona und Madrid. Die sehr schnittig aussehenden aber meist erstaunlich kurzen Züge machen so viel Lärm wie ein Überschall-Jet!
Der nächste Ort, Mirabueno, macht seinem Namen Ehre: er bietet einen prächtigen Blick ins Tal.
Unten liegt Mandayona am „süßen Fluss“, dem Rio Dulce.
Die Herberge ist ein zellenartiges Zimmer in einem Multifunktionsbau: Sozialstation, Schule, Co-Working-Space (ja, wirklich - hier!); es gibt lediglich ein Stockbett ohne Decken und zwei Stühle. Duschen sollte ich doch bitte erst in zwei Stunden oder später, denn noch würden sie nebenan arbeiten, bat Óscar, der mich eingelassen hatte. Dann war ich mir selbst überlassen und ging auf die Suche nach Schönem in dem ziemlich tristen Ort: ein paar Schritte im Grünen entlang des Flusses, eine hübsch gelegene aber natürlich geschlossene Kirche.
So wurde der Abend doch noch ganz nett, und auf einer Bank in der späten Sonne zu sitzen, fühlt sich immer gut an.
Die Schlafsituation machte mir allerdings ein wenig Sorgen, und fast hätte ich bei Nachbarn um eine Wolldecke gebeten. Die Klimaanlage war nämlich beim besten Willen nicht dazu zu bewegen, sich in Gang zu setzen.
Aber dann kam ich auf die raffinierte Idee, im Foyer nach dem Sicherungskasten zu suchen, und siehe: die entscheidenden beiden Schalter standen auf „Aus“. Hah, nicht mit mir!
Montag, 15. April
Die Nacht in der Herberge war in der Tat knuffig warm. Und meinen Stempel bekam ich auch noch, weil das Rathaus bereits um acht Uhr öffnet.
Mit dem Barranco del Rio Dulce stand heute eine der landschaftlich schönsten Strecken auf dem Programm. Ein einzigartiges Biotop sollte es sein, sowohl was Flora als auch was Fauna betrifft.
Bis Aragosa schlendert man ein paar Kilometer ganz entspannt am Fluss entlang. Dann ist wieder eines der traurigen verlassenen Dörfer erreicht.
Sozialstation und Kirche liegen direkt nebeneinander - das Komplettpaket für die älteren Herrschaften. Leider alles in ziemlich schlechtem Zustand.
Doch auch in Aragosa wird offenbar manchmal so richtig wild gefeiert! Davon zeugen gestapelte Plastikstühle und ein paar Spanien-Fähnchen.
Das Tor zum Kirchhof: verschlossen. Doch als ich ein Stück weiter ging, sah ich, dass es nicht nur einen zweiten Zugang gibt, sondern dass das Portal auch offen stand. Also schob ich mich vorsichtig hinein.
Nicht vorsichtig genug, denn aus der Sakristei erscholl ein „Hola“, und dann erschien ein schmales Männchen in Arbeitshosen und einer speckigen, zu großen Lederjacke. „Ach, eine Touristin“, sprach es. „Ich putze gerade ein bisschen, und komm doch mal mit. Hier in der Sakristei, guck, da kommt die halbe Decke runter, alles feucht!“
Ich murmelte Anteilnehmendes und „bestimmt ein teurer Spaß“.
„Diese Kirche ist ja sehr bescheiden“, gab mein Gegenüber zu bedenken, und als ich sagte, gerade das gefalle mir, stimmte er zu, auch hier wohne Jesus Christus. Ob ich wisse, wer das sei?
Ja, doch...
Erfreut legte der Mann los und - ich kann es leider nicht anders sagen - spulte ohne Punkt und Komma, und vor allem ohne mich dabei anzusehen, die Eckpunkte der christlichen Lehre ab. Daher überraschte es mich auch nicht, als er kurz Atem holte: „Ich bin übrigens der Priester“ und dann fortfuhr.
Es folgte noch sehr viel zum Niedergang der Welt - Euthanasie, das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung in Spanien, Genderwahnsinn und der völlige Mangel an Moral bei den jungen Menschen. Der Glaube und die christliche Kirche würden ihnen in diesen säkularen Zeiten nichts mehr bedeuten.
Ob die Kirche daran völlig unschuldig sei und nur noch resignieren könne, fragte ich.
Oh, nein, nein, auch die Kirche müsse sich ändern, gab el Señor Cura zu.
Also wartete ich gespannt und hörte dann: „Wir müssen uns noch stärker Gott zuwenden und mehr beten!“
Ach. Nun, das überzeugte mich nicht so recht...
Damit überließ ich den guten Mann - Pfarrer für fünf weitere Kirchen, die allesamt nur von einem halben Dutzend Gläubigen besucht werden - wieder seinen Reinigungswerk.
Direkt hinter dem Friedhof von Aragosa tut sich auf einmal eine wildromantische Cañon-Landschaft auf, besonders spannend durch den Kontrast mit dem frischen Frühlingsgrün und die rosa Zistrosen mit den typischen knittrigen Blütenblättern.
Natürlich ist diese Gegend auch ein Vogelparadies. Den ganzen Morgen hörte ich es singen und klingen, wobei ein Vogel sich mit seinem durchdringenden "Füüüt, füüüt, füüüt" immer wieder in den Vordergrund schob. Auch Kuckucke, Raben und Greifvögel waren mit ihren charakteristischen Rufen zu erkennen. Dabei wurde mir allerdings bewusst, dass die Geier immer stumm ihre Kreise ziehen. Ob das mit zu ihrem unheimlichen Ruf beiträgt?!
Nach diesem Höhepunkt wurde das Tal wieder breiter und bot Platz für ein weiteres Dorf, mit Frontón mitten im Ort, und gleich links davon ist die Kirche – ein sehr entspanntes Miteinander!
Da ganz Spanien von 14 bis 17 Uhr geschlossen ist, beschloss ich, mich anzupassen und hinfort auch Siesta zu halten. An hübschen Plätzen mangelt es nicht.
Die Ortschaft Pelegrina lockt mal wieder mit einer Burg (wer die einst besaß, herrschte über den Fluss und das ganze Tal!), aber den Aufstieg ersparte ich mir und schraubte mich stattdessen auf der anderen Seite in angenehmen Serpentinen auf 1100 Meter hoch.
Auf der Hochebene bietet sich wieder ein völlig anderes Bild.
Keine Frage, dies ist ein an Geschichte und Geschichten reicher Weg, denn auch der Camino del Cid und die Ruta den Don Quijote führen nach Sigüenza.
Dort kam ich am Spätnachmittag an, schaute kurz in der Touristeninformationen vorbei und freute mich auf eine ausgiebigen Spaziergang durch die Stadt. Erster Eindruck: sehr vielversprechend.
Mein Quartier fiel heute mal eine Nummer edler aus: Im Palacio de los Infantes wurden jahrhundertelang Chorknaben für die Kathedrale ausgebildet, denn Sigüenza war Bischofssitz. Heute betreiben die Padres Josefinos dort ein Gästehaus und ein Bildungszentrum. Und wieder geriet ich an einen gesprächigsfreudigen Geistlichen, aber von ganz anderem Kaliber.
Pater José Ramón wollte mir eigentlich nur das Haus und einen besonders schönen Blick vom oberen Stockwerk aus zeigen...
Doch anderthalb Stunden später standen wir immer noch zusammen - damit hatten sich der Besuch der Kathedrale und der Stadtbummel leider für mich erledigt - und diskutierten über spanische Geschichte in der frühen Neuzeit (mit der ich mich zufällig einigermaßen gut auskenne) und das Weltreich, in dem die Sonne nie untergeht. José Ramón vertrat doch tatsächlich die Ansicht, die ganzen Völker (die ich als unterworfen betrachte) hätten sich begeistert unter spanische bzw. kastilische Herrschaft begeben und davon profitiert. Ja, mehr noch, diese Rolle als Welten-Einiger müsse Spanien auch heute wieder einnehmen (natürlich auf friedliche Weise)!
Nun, ich hatte viel zu (be)denken, als ich mich nach einem späten Abend-Einkauf und einem Videotelefonat mit der Familie in meinem ehemaligen Internatszimmer zu Bett begab.
Dienstag, 16. April
32 Kilometer bis Atienza waren heute zu laufen, also stellte ich mir den Wecker, um früh starten zu können. Aber ich hatte die Rechnung nicht mit dem Pater gemacht, der mich zum Frühstück oder zumindest zu einem Heißgetränk einladen und noch viele weitere Themen erörtern wollte, u.a. den Zustand der Kirche in Spanien und anderswo, seine Wertschätzung der Protestanten und ihres Umgangs mit dem Evangelium und die Frage, wie man in der Schule Region unterrichten sollte. (Auch hier hatte ich natürlich wieder von Fini und konkret ihrer Ernüchterung angesichts völlig uninteressierter Schulkinder erzählt.)
Aber ich riss mich nach einer Weile dann doch los und wurde mit einer Umarmung und vielen guten Wünschen verabschiedet.
Mein ausgeklügelter Plan: vormittags wenig fotografieren und ordentlich Strecke machen, solange ich noch frisch und die Sonne nicht so heiß sein würde (was sie heute aber gar nicht wurde, kaum 20 Grad und kräftiger Wind bei weiterhin tiefblauem Himmel).
Fünf oder sechs Kilometer klappte das auch, dann lockte Palazuelos, das sich wegen seiner mehr oder weniger gut erhaltenen Stadtmauer ambitioniert „Klein Ávila“ nennt, im Grunde aber ein ziemlich verfallenes Kaff ist.
Kurz danach entschied ich mich für einen Abstecher nach Carabias, von dessen romanischem Kirchlein ich in dem wunderschönen Blog von Gertrudis gelesen hatte. (Sie war übrigens auch Schuld daran, dass ich mich spontan in die Ruta de la Lana verliebt hatte.)
Manch einer hätte es bekloppt genannt, dafür acht zusätzliche Kilometer in Kauf zu nehmen, aber ich fand es lohnend: ein wunderschöner Kreuzgang mit Doppelreihen von Säulen. Leider war die Kirche selbst natürlich wieder verschlossen.
Und im selben Dorf - das wie alle anderen über keine Bar, geschweige denn einen Bäcker oder gar ein Lebensmittelgeschäft verfügt, bekam ich von netten Leuten sogar noch Brot geschenkt - alles Andere hatte ich am Vorabend in Sigüenza gekauft -, so dass einer weiteren Siesta nichts entgegen stand.
Dann der lange Weg zurück auf die Ruta. Sehr einsam...
In Santamera wohnen gerade mal fünf Menschen. Dabei sieht der Ort nach deutlich mehr aus und ist vor allem ziemlich spektakulär gelegen: umgeben von hohen Felswänden, die grandios aufgefaltet sind. Der Anblick entschädigt für einen widerlichen Steilanstieg auf einer rutschigen Schotterpiste.
Am Nachmittag gönnte ich mir eine weitere Pause mit Auffüllung der Vitaminspeicher und erreichte schließlich ein weiteres Dorf, Riofrío del Llano.
Vielversprechend aber leider ein Fehlschlag: die per Aufsteller angekündigte Bar war zu.
Auch auf die Landstraße, die von hier aus nach Atienza führt, hatte ich vergebliche Hoffnungen gesetzt: so gähnend leer wie die Orte unterwegs. Keine Chance für eine Mitfahrgelegenheit. Also musste ich um halb fünf nachmittags in den sauren Apfel beißen und noch mal zehn Kilometer im Aufstieg unter die Füße nehmen.
Das ging aber dann doch erstaunlich schnell, durch einen geisterhaft kahlen Wald, und dann bot sich mir, wie so oft schon, wieder ein eindrucksvoller Anblick: Sigüenza, por fin!
Am Ortseingang erkundigte ich mich bei einem Hotel nach dem Weg zur Herberge: Ich könne gern auch bei ihm bleiben, lud der Besitzer mich ein, verwies mich dann aber an den Bürgermeister, der zufällig gerade in seinem Auto vorbeikam und mich hoch (oh, ja!) fuhr.
Die Albergue ist total abgeranzt und vollgemüllt, aber der Alcalde sagte ganz stolz, seine Señora kümmere sich darum; und sie hatte wohl auch für mich geheizt und ein Bett bezogen, also alles gut. Eigentlich sei die Unterkunft gratis, aber als Spende dürfe ich gern einen oder zwei Euro hinterlassen, ließ der Alcalde mich wissen. Auch schon wieder rührend.
Einen kleinen Laden und einen Bäcker (der allerdings keinerlei interessante lokale Spezialitäten zu bieten hatte, so dass ich mit einem viel zu großen Körnerbrot abzog) konnte ich auch auftreiben, eine Anstandsrunde durch den Ort war ebenfalls noch drin, dann wurde „gekocht“. Natürlich fehlt es auch in dieser Herberge an sämtlichen Utensilien; der - ausgeschaltete - Kühlschrank riecht, als läge etwas Totes darin, und in die Mikrowelle mochte ich dann gar nicht mehr reinschauen. Also gab es kalte Küche, Thunfischsalat à la maison als ersten von drei Gängen. Beim Zusammenrechnen bin ich auf 40 Kilometer gekommen, da muss man schon einiges wieder zufüttern...
Bin aber erstaunt, wie locker ich diesen fast-Marathon gelaufen bin!
17. April
Da ich am Vorabend nicht mehr viel Lust und Zeit für einen Stadtbummel gehabt und überdies für heute eine kurze Etappe geplant hatte, begann ich den kalten aber vielversprechenden Tag ausnahmsweise als Touristin. Als erstes führte mich das Programm hoch zur Burgruine, die reizvolle Ausblicke bietet.
Atienza hat allein - ich glaube - acht Kirchen, verfügt aber auch über eine (nicht sehr eindrucksvolle) Stierkampfarena und einen Marktplatz mit malerischen Arkadengängen.
Die einzige geöffnete Kirche ist Johannes dem Täufer gewidmet.
Am Ortsausgang gibt es dann noch ein wunderhübsch gelegenes Kirchlein , mit buchstäblich er-greifenden Details: einem Fries aus Händen.
Kurz darauf zeigten sich tatsächlich die ersten verschneiten Berge am Horizont.
Ein ganzes Stück wanderte ich durch einen Wald, dessen Unterholz mit weißen Blüten bedeckt war - zauberhaft!
Kurze Trinkpause in Romanillos, wo mal wieder kein Lebewesen zu sehen war.
Dann eine längere Strecke durch flaches, von Landwirtschaft geprägtes Terrain - nicht sonderlich spannend.
Am frühen Nachmittag erreichte ich Miedes de Atienza. Hier und im sechs Kilometer entfernten Retortillo de Soria soll es gute Herbergen geben. Aber wo?
Das Rathaus: selbstverständlich geschlossen. Der Platz: menschenleer. Beim Durchstreifen der wenigen Straßen fand ich immerhin einen Menschen, der mir den ungefähren Weg zum ehemaligen Schulhaus wies. Daselbst: niemand, geschlossene Türen. Also zog ich weiter meine Kreise, bis ich den nächsten Menschen traf - und der erwies sich doch tatsächlich als Pilger, der kurz vorher die Herberge bezogen hatte. Dass ich das noch mal erleben durfte-!
Irgendwann tauchte auch ein lässiger Hospitalero auf - Stefano wohnt im selben Haus im Obergeschoss -, kassierte fünf Euro, warf den Boiler an und blieb noch ein wenig, um zu quatschen. Er sei aus Madrid hergezogen, schlage sich als Putzmann für eine Casa rural und als Pferdewirt durch, aber für seine Bude zahle er monatlich nur 150 €, und mehr als 1000 € brauche man in dieser Gegend nicht zum Leben. Es gebe unter den rund vierzig Bewohnern des Dorfes auch ein paar Leute in seinem Alter und sogar einige Kinder, dazu die beste Luft von ganz Spanien. Was also wolle man mehr?!
Ich hätte mir noch ein paar Tipps für die in Sachen Übernachtung schwierigen nächsten Tage gewünscht, aber damit konnte Stefano nicht dienen.
Beim Schlendern durch das Dorf hatte ich bald 50 % der männlichen Einwohnerschaft kennengelernt und wieder ein paar Schwätzchen gehalten. Klar, die Herren sitzen draußen und lassen es sich gut gehen. (Wo stecken ihre Frauen? In der Küche? In der Kirche?)
Um acht öffnete eine der beiden Bars des Ortes - die wenigen Besucher waren so stimmgewaltig wie ein ganzes Stadion voller Männer -, und da der Wirt auch noch eine kleine Tienda betreibt, konnte ich meine Vorräte für morgen aufstocken.
Am Abend gab es dann viel zu planen, denn mit der Provinz Soria betritt der Pilger erst den WIRKLICH einsamen und verlassenen Teil Spaniens. Für die nächsten Tage ist also mit echten Schwierigkeiten bei der Quartiersuche zu rechnen. Mein Compañero, der 70jährige Ross aus Brisbane, ist des Spanischen leider nicht kundig - aber ein solcher Camino-Aficionado, dass er bereits zum achten Mal aus Australien nach Spanien gereist ist!! Wie er bisher durch die Ruta de la Lana gekommen sein mag, ist mir ein Rätsel, aber er scheint Helfer geradezu magisch anzuziehen. Mit dieser seiner Qualität und meinen Sprachkenntnissen zusammen sollte es uns wohl gelingen, morgen irgendeinen Schlafplatz zu finden, beschlossen wir, und widmeten uns dann anderen Themen. Ein interessanter Typ, der erst 30 Jahre Lokführer bei der australischen Eisenbahn war und dann bis zur Pensionierung Aboriginee-Reservate gemanagt hat. Was Ross alles vom Outback zu erzählen hat, könnte ganze Bücher füllen. Aber er quatscht auch gern und viel in seinem schwer verständlichen Dialekt, so dass ich wieder nicht dazu kam, mein Tagebuch zu aktualisieren, ehe mir noch vor elf die Augen zu fielen.
Donnerstag, 18. April
Was für ein Tag! Abwechslungsreich und abenteuerlich!
Da mein Compañero noch im Dorf frühstücken wollte, machte ich mich allein an den Aufstieg nach Retortillo de Soria - wieder ein eiskalter, klarer Morgen mit einem wundervollen Panorama.
Mit dem heutigen Tag verlasse ich die Provinz Guadalajara, die so gut zu uns Pilgern ist: allein die Informationstafeln am Eingang zu jedem Dorf sind Gold wert, mit den wichtigsten Attraktionen, Telefonnummern, Angaben zu Herbergen und Stempelstellen.
Wenn du Guadalajara schon einsam fandest, dann wird Soria dir wie das Ende der Welt vorkommen, sagte mir ein Einheimischer: dort findet man kaum noch Menschen in den Dörfern.
Und so sah es dann auch aus, als ich den höchsten Punkt der Ruta de la Lana erreicht hatte.
Mit dem Übergang nach Castilla y León verwandelt sich das bescheidene Sträßchen in eine gut ausgebaute zweispurige Straße - für die fünf oder sechs Autos, die pro Tag hier durchkommen...
Retortillo de Soria wäre der Ort gewesen, wo ich alternativ hätte übernachten können - und es war der Ort, wo ich Auskünfte zu möglichen Quartieren für den kommenden Abend zu bekommen hoffte! Aber das Rathaus öffnet donnerstags nicht, das Hotel war zugesperrt, die Apotheke noch nicht offen und außer zwei altem Männern auf einem Hinterhof fand ich niemanden. Die Beiden waren zwar freundlich, konnten mir aber auch nicht mehr sagen, als ich schon wusste.
Am Ortsausgang, wo ich gerade mein Frühstück mümmelte, traf ich dann wieder mit Ross zusammen. Und dass wir gemeinsam weiter gingen, sollte sich als unser beider Glück erweisen.
Einer der Höhepunkte des ganzen Camino erwartete uns heute: der Cañón de Caracena. Aber wie großartig dieses Schlucht mit dem bescheidenen Flüsschen darin sein würde, hatten wir beide nicht geahnt. 6,5 Kilometer sind es bis zum nächsten Dorf am anderen Ende - hinterher waren wir uns einig, dass es die längsten aber auch die schönsten 6,5 Kilometer waren, die wir seit Langem erlebt haben.
Schon wegen der völligen Abgeschiedenheit war es gut, hier nicht allein unterwegs zu sein. Aber dazu kam noch die eine oder andere Herausforderung: Mehrere Male musste der Fluss durchquert werden - und da wäre ich ohne Ross' Wanderstöcke mit einiger Sicherheit baden gegangen. Die Kletterstellen bereiteten Ross wiederum große Schwierigkeiten, und da konnte ich ihm dann helfen. Aber allein für diesen Durchblick hätte sich die Mühe gelohnt:
Am Ende der Schlucht kauert - von unten aus gesehen - das Dorf Caracena:
Steinhäuser in warmen Erdtönen (die Hälfte verfallen oder eingestürzt), schmiedeeiserne Balkone, gepflasterte Gassen und mindestens eine, besser noch zwei Kirchen.
In die obere Kirche habe ich mich sofort verliebt, vor allem wegen der vierfach verdrehten Säule: In der christlichen Baukunst wie übrigens auch in jüdischen Synagogen wurden früher oft solche Fehler eingebaut als symbolischen Hinweis darauf, dass alleine Gottes Werk makellos und perfekt ist.
In einem Haus wurde renoviert, sonst rührte sich kein Leben. Leider auch nicht in der berühmten Bar von María Ángeles und Sebastiano. Dort sollte man unbedingt einkehren, hatte es geheißen, Maria werde zu vielen Themen einen Rat anbieten können, und manchmal gebe es auch Schlafplätze.
Dass in Sachen Schlafplätze nichts zu machen sei, hatte ich zwar schon beim elften Versuch am Telefon von María erfahren. Dass ihr Lokal bis einschließlich 18. April - also heute - Urlaub mache, hatte mir die Dame aber leider nicht verraten! Aus der Traum vom kühlen Bier, vom leckeren Eis und irgendwie vielleicht doch noch einem Schlaflager...
So blieb uns - Ross müde aber tapfer - nur die Möglichkeit, uns ins noch mal acht weitere Kilometer entfernte Fresno de Caracena zu begeben. Von einem einfachen Quartier im Rathaus - Matratzen, kaltes Wasser - hatten frühere Pilger berichtet. (Unnötig zu erwähnen, wie viele Versuche ich unternommen hatte, das Rathaus vorab telefonisch zu erreichen.)
Wir malten uns zum Spaß aus, wie die Einwohner Spalier stehen und uns jubelnd begrüßen, ja, sich geradezu darum streiten würden, wer uns aufnehmen dürfe. Doch sowohl in Carrascosa de Abajo wie auch in Fresno herrschte wieder mal tote Hose. Der Bürgermeister wohne am Ende des Ortes, ihn sollten wir fragen, riet uns ein Arbeiter. Gesagt, getan.
Doch leider, leider sei nichts zu machen, bedauerte der gute Mann, vor Covid habe es tatsächlich eine einfache Herberge gegeben, aber seitdem... Es schien ihm etwas unangenehm zu sein, und die geschlossene Bar in Caracena hielt er geradezu für ein Unding.
Und nun?
Die nächste Übernachtungsmöglichkeit sei in San Esteban de Gormaz, tröstete der Alcalde uns, knapp 20 Kilometer entfernt.
Aber nicht mehr abends um Viertel nach sieben erreichbar, gab ich zu bedenken. Was wir denn jetzt bloß machen sollten?! (Ach, die Tränendrüse wurde nach Kräften ausgequetscht...)
Der langen Rede kurzer Sinn: Tomás beschloss, uns kurzerhand nach San Esteban zu fahren, und sein erwachsener Sohn kam gleich noch mit. Beide betonten, dass sie derlei zum ersten Mal machten, und ich überschüttete sie in unser beider Namen mit Lobpreis und Danksagungen. Ah, bah, alles normal!
Nach langem Suchen - über eine Pilgerunterkunft bei der Gemeinde, beim Roten Kreuz oder im Sportzentrum wusste niemand etwas, und die zwei Hostels des Ortes waren doch tatsächlich ausgebucht - setzen unsere Wohltäter uns bei der Pension „Rincón de Elena“ ab (zufällig genau der Pension, die in der Pilgerwegbeschreibung auch empfohlen wird). Ross spendierte uns, äußerst dankbar für meine Gesellschaft und Unterstützung, zwei Zimmer, und ach, ging es mir dann gut!
Auf dem Bett liegend verspeiste ich genüsslich so ziemlich alles, was ich mitgebracht hatte, unter anderem eine halbe Tortilla española mit Tomaten und eine Tafel Schokolade. Schon mal gut. Aber dann sah ich auch noch, dass das Bad über eine Wanne und sogar einen Stöpsel verfügt! Bis fast Mitternacht aalte ich mich also im warmen Wasser - und wunderte mich nur, dass ich nach all diesem Wohlleben nicht einschlafen konnte -! (Woran sicher auch die immer viel zu prallen, brettharten spanischen Kopfkissen nicht ganz unschuldig sind.)
Morgen stehen, wie heute auch, 32 Kilometer an. Ob mein netter australischer Kollege sich die wirklich antun sollte?!
Caminos del Norte, Primitivo, Muxia y Fisterra, Portugués mit Variante espiritual, Mozárabe; Voie de Régordane, Chemin du Piémont Pyrenéen, Route Bidassoa-Nive;
Via Regia, Via Jutlandica, Via Porta, Münchener Jakobsweg u.v.m. in Deutschland
Via Regia, Via Jutlandica, Via Porta, Münchener Jakobsweg u.v.m. in Deutschland
Ruta de la Lana im März 2024, Teil 3
Freitag, 19. April
Er hat sie sich angetan, ist mit letzter Kraft stöhnend ans Ziel gehumpelt und liegt nun schnarchend zwei Betten neben mir in der knuffigen Herberge von Quintanarraya. Ich muss aber zugeben, dass ich, warum immer, diesen Tag auch ganz schön anstrengend fand, deshalb erst morgen mehr.
Unser Pensionspreis beinhaltete ein - für spanische Verhältnisse - gar nicht mal so übles Frühstück, das wir netterweise schon um acht serviert bekamen, aber ich begnügte mich trotzdem mit Orangensaft und grünem Tee und sackte nur zwei winzige eingeschweißte Teilchen für später ein.
Heute Abend in Quintanarraya würden wir uns etwas richtig Leckeres bereiten, hatten Ross und ich beschlossen. Leider bietet die dortige Herberge zwar eine brauchbare Küche, aber es gibt im Ort kein Lebensmittelgeschäft. Also kauften wir in San Esteban die halbe Frutería leer und ergänzten weitere Zutaten im Supermarkt. Merke: außen am Rucksack baumelnde Plastiktüten wirken sich ungünstig auf den Erhaltungszustand von darin befindlichen Tomaten, Bananen und Champignons aus!
Da Ross' und mein Lauftempo und -rhythmus doch recht unterschiedlich sind, gerade hangaufwärts, durfte ich voraus laufen und hatte so genug Zeit, mir eine von zwei romanischen Kirchen in Rejas de San Esteban zu Gemüte zu führen, San Ginés. So schöne Kapitelle! An der Tür hing tatsächlich mal eine Telefonnummer für Besichtigungen, aber ich wurde abgeschmettert, weil gerade „keine Saison“ sei.
In dieser Gegend wird wieder verstärkt Wein angebaut - und nicht irgendeiner, sondern ein D.O.C.-Tropfen, „Denominación de origen controlada“: nur im Umkreis von 30 Kilometern vom Fluss Duero dürfen die Winzer dieses Prädikat verwenden!
Heute hatte ich entschieden, nicht dem Pilgerweg zu folgen (der uns 16 oder 17 km Asphalt beschert hätte), sondern eine fußfreundlichere und auch nicht längere Alternative von Komoot zu nutzen.
Kein besonders warmer Tag, aber für einen alles andere als gesunden 70jährigen war die stetig aufwärts führende Piste schweißtreibend genug. So lud ich ihn oben in die „Pine Bar“ in den Schatten einer Fichte ein und servierte Kefir (neben Wasser mein diesjähriges Camino-Getränk Nr. 1, ihm bis dato unbekannt) und die wirklich schlechten Minicroissants und Madalenas vom Frühstückstisch.
Bei unserer nächsten Pause bekam ich Musikvideos vorgespielt - auch mal nett -, danach ging ich wieder meiner Wege. So angenehm es ist, unterwegs Gesellschaft und viel zu Lachen zu haben - schon fallen die kleinen Gespräche mit den Einheimischen weg, und das Fotografieren wird, zackzack, unterwegs erledigt.
Eine durchaus ansprechende Wegführung, allerdings ständig auf und ab. Ein wolkenloser Himmel ist etwas Wunderbares, aber so ein klitzekleines bisschen Schatten wäre auf dieser Ruta manchmal ganz willkommen.
Endlich in Sicht: Quintanarraya, das Ziel dieser 32 Kilometer-Etappe. Die Herberge sei sehr einfach, war älteren Berichten zu entnehmen, aber der Kontakt zur Hospitalera hatte schon mal hervorragend geklappt. Und dann fand ich bei meiner Ankunft um halb sieben dies vor: ein rundum gemütliches Quartier in einem ehemaligen Schulhaus, mit Heizung, heißer Dusche, einem Kühlschrank, Kochplatte und sogar dem dazugehörigen Geschirr! Nach der üblichen Körper- und Kleidungspflege setzte ich mich noch zum Lesen in die Sonne vors Haus - und wurde sogleich von jedem passierenden Hundebesitzer und Spaziergänger angesprochen. Soo viele Pilger verirren sich offenbar nicht hierher.
Eine Stunde später erschien Ross („Meine Füße bringen mich um!“), lieferte das zermatschte Obst und Gemüse ab und bekam dann kurz darauf einen wahren Pracht-Salatteller von mir vorgesetzt.
Bier, Wasser und Limonade zum Selbstkostenpreis hatten bereits im Kühlschrank auf uns gewartet. So dürfte es öfter sein!
Bloß auf das nächtliche Stöhn- und Schnarchkonzert hätte ich gern verzichtet...
Samstag, 20. April
Ein paar Kilometer von Quintanarraya entfernt liegt eine römische Ausgrabungsstätte, Clunia Sulpicia, die ich gern besichtigen wollte, morgens zwar erst ab zehn Uhr, aber immerhin überhaupt mal geöffnet!
Als ich ankam, wartete bereits eine lange Autoschlange vor dem Eingang: ein Wochenendausflug bestens gelaunter Oldtimer-Fans. Leider nicht in der dazu passenden Kleidung, aber die trügen sie nur bei offiziellen Anlässen, erzählten sie mir.
Die Colonia Clunia Sulpicia ist längst nicht so gut erhalten wie die berühmteren Römer-Siedlungen; man braucht also allerhand Fantasie, um sich das Leben vor 2000 Jahren vorzustellen. Aber hier müssen damals mehrere tausend Menschen gelebt haben! Ein Film mit guten Rekonstruktionen hilft bei der Visualisierung, und zumindest das Amphitheater und die Thermen sind noch leidlich gut erhalten. Die wunderbaren Mosaiken hat man mittlerweile wieder abgedeckt, sehr schade!
Ich hätte mir den langen Umweg vielleicht gespart, wenn ich meinen nächsten Gastgeber eher kontaktiert hätte: Der Mönch in Santo Domingo de Silos sagte nämlich nun am Telefon, man müsse vor 18.30 Uhr eintreffen, um in der Herberge Einlass zu finden. Schreck, lass nach! Für Ross, der morgens um neun aufgebrochen war, gut machbar. Ich verließ Clunia um halb zwölf und sollte nun 29 km in unter sieben Stunden schaffen!
Und das notgedrungen wieder auf einem teilweise selbstgebastelten Weg, was nicht ganz ohne Schwierigkeiten gelang - aber am Ende wieder viel Abwechslung bot.
Unterwegs gibt es nur einen größeren Ort, Huerta de Rey - also zumindest so groß, dass er über Bäcker, Fleischer und einen Tante Emma-Laden verfügt. Am Samstag um 13.30 Uhr war das Angebot allerdings nur noch überschaubar, und das Städtchen reizte mich auch wenig, aber ich setzte mich mit einem Eis an einen Bachlauf, um trotz der gebotenen Eile ein wenig zu trödeln.
Im Haus nebenan zeterte eine Seniorin einem jüngeren Paar hinterher und gab ein paar erstaunlich unflätige Worte von sich, als die Beiden abfuhren. Ich grinste zu ihr hoch, und sie rief runter: „Na, ist doch wahr! Das macht mir schlechte Laune („mala leche“). Ich will nicht in irgendein blödes Restaurant gehen! Warte, ich komme runter.“
Dann erschien sie neben mir und kündigte an, mich ein wenig unterhalten zu wollen, einverstanden? Ein Spiegelei würde ihr völlig reichen, und überhaupt!
Zum Glück kam sie dann bald auf ihre Blumenpracht zu sprechen, die entlang des Bachs in Beeten und Töpfen wächst. Jede einzelne Pflanze von ihr gehegt und gepflegt, jawohl, mit dem Wasser aus dem Bach, das mache sie glücklich, und mehr brauche sie nicht im Leben! Ich ließ mir ihre Schätze einzeln vorstellen, bat dann noch um Wasser aus dem Hahn für mich und zog weiter, raus aus dem Ort.
Wir befinden uns mittlerweile in der Provinz Burgos, was sich an einer deutlich anderen Architektur zeigt: keine Lehmziegel mehr, dafür Stein und auch viel Fachwerk.
Was sich allerdings nicht zeigt, sind gelbe Pfeile oder gar Pilgermuscheln. Dafür wird der grandiose Kämpfer, El Cid Campeador, allerorten gefeiert.
Nach anderthalb Stunden Landstraße geht es in einen duftenden Pinienwald mit vielen einladenden Rastplätzen. Und da heute Samstag ist, machen auch viele Familien von dieser Einladung Gebrauch.
Über einen steilen Pfad erreicht man einen Sattel, und plötzlich tut sich wieder ein Gebirgespanorama auf.
Spannend anzusehen, aber ich bedauerte es nicht, dass mein Weg mich wieder abwärts führte, nach Santo Domingo de Silos.
Am Ende rannte ich fast den gerölligen Pfad herab, aber um fünf Minuten vor halb sechs läutete ich an der Klosterpforte – geschafft! Und wer kam mir da zusammen mit dem Bruder Hospitalero entgegen? Ross. Wenn das kein Timing war-!
Die Herberge sei bescheiden, war ich am Telefon gewarnt worden, aber wenn dieses moderne, blitzblanke Quartier bescheiden ist, dann frage ich mich, wie die Mönche wohnen!
Nachttischleuchten mit eigenen Steckdosen, eine Waschmaschine und sogar einen Trockner gibt es hier.
Wir haben uns natürlich alle Fetzen vom Leib gerissen, um ein paar Stunden später saubere, wohlriechende Kleidung zu genießen.
Der Ort ist brechend voll mit Touristen und entsprechend auch Lokalen und Souvenirgeschäften.
Für die Besichtigung des berühmten Klosters war ich selbstverständlich zu spät angekommen, aber ich konnte immerhin an der Vesper in der klassizistischen, völlig kargen Klosterkirche teilnehmen: 15 oder 16 Brüder, ein Organist, ein Priester und zwei Messdiener (die aber zu nichts dienten), eine Dreiviertelstunde gregorianische Gesänge und Gebete. Dem Tagesplan nach zu schließen, leben sie hier wirklich noch nach der benediktinischen Regel.
Am Sonntag darf ab zwölf besichtigt werden, seufz. Mal sehen, ob sie für Peregrinos eine Ausnahme machen...
Sonntag, 21. April
Wieder einmal Glück gehabt: Ich konnte einen der Benediktiner, der gerade mit geraffter Kutte einen Wagen aus dem Klosterfuhrpark abspritzte (am Tag des Herrn!?
), beschwatzen, mich zehn Minuten lang durch den grandiosen Kreuzgang spazieren zu lassen. Übrigens keineswegs so exklusiv, wie ich gedacht hatte: da liefen noch etliche andere Laien herum. Am Ende zeigte der Mönch mir sogar noch gnädig die Reliquien des heiligen Domenicus, aber die interessieren mich weniger.
Alles Andere in Silos war geschlossen, aber ich nahm mir trotzdem Zeit für einen kurzen Rundgang, kaufte dann beim Kiosk noch ein vielversprechendes Körnerbrot als Proviant und freute mich auf einen entspannten Wandertag.
Die Felsformationen lassen es schon ahnen: hier reiht sich ein Steinbruch an den anderen. Und noch etwas ahnt man: dass unlängst gewaltige Waldbrände gewütet haben müssen. Ein schauriger Anblick!
In Retuerta wollte ich eigentlich nur rasch Wasser nachtanken, aber auf den Straßen war einiges los, und die alten Gemäuer haben es mir auch wieder angetan.
Nach 16 Kilometer lockt ein weiterer Touristenmagnet: Covarrubias, malerisch am Rio Arlanza gelegen, in dem man sich sommers bestimmt wunderbar erfrischen kann.
Hier traf ich wieder - und zum letzten Mal - mit Ross zusammen, der morgens schon vorausgegangen war, dann aber beschlossen hatte, sich nicht weiter zu quälen und in Covarrubias einen Pausentag einzulegen, bevor er mit dem Bus nach Burgos reisen und dann nur noch Tourist sein würde. Das tat mir Leid für ihn, war aber garantiert die richtige Entscheidung.
Zum Abschied schleppte ich ihn noch mit in die Kollegiatskirche samt Museum San Cosme y Damián. Sehr prächtig, sehr golden.
Mit optimaler Signalisation nahm ich am Spätnachmittag die letzten neun Kilometer in Angriff, vergnügt, aber auch ein bisschen unruhig, weil ich in Mecerreyes telefonisch mal wieder niemanden erreicht hatte, um mein Kommen anzukündigen.
Überraschenderweise war in der Bar aber der Teufel los, mit entsprechendem Lärmpegel - normalerweise hätte sie um diese Zeit geschlossen sein müssen. Ich liebäugelte noch kurz mit dem Hinweis, hier werde Tortilla española, auf Wunsch auch mit Schinken und Käse, verkauft, besann mich dann aber meines - ausgesprochen leckeren - Brotes und ließ mir nur einen Stempel und den Herbergsschlüssel verabfolgen.
Und was für eine Herberge schon wieder! Als sollten zum Schluss noch mal alle Register gezogen werden, aber diese städtische Einrichtung ist wohl in erster Linie für die Camino del Cid-Wanderer gedacht.
Fast schade, die ganze Pracht alleine genießen zu müssen. Ich wählte das gemütliche Dachzimmer und machte es mir in der Sonne mit meinem Abendessen bequem.
Jetzt habe ich noch einen Rest Brot und drei Salatblätter für morgen - gut, dass dann wieder Montag mit entsprechenden Ladenöffnungszeiten ist. Spätestens in Burgos, das ich am Abend erreichen werde, tut sich ja wieder ein wahres Shopping-Paradies vor mir auf.
Und die Stadt wird voller Pilger sein, denn auf dem Camino francés ist jetzt Hochsaison.
Montag, 22. April
Das Motto des Tages: marschieren gegen den eisigen Wind. 34 Kilometer lang.
Immerhin war der Tag sonnig, womit ich gar nicht mehr gerechnet hatte, und die Etappe landschaftlich auch keineswegs öde, wenn ich mal den Blick dafür erübrigen konnte.
Die Bar in Mecerreyes war morgens überraschenderweise geschlossen - wie überleben die Männer ohne ihren Cortado?! -; die nächste Bar zwölf Kilometer weiter hatte leider nur Getränke im Angebot.
Anderthalb Stunden später: wieder ein Dorf mit Bar, hurra!
Bei meinem Eintritt schreckte ich ein junges Paar auf, das hingebungsvoll hinter dem Tresen knutschte. Das nahmen die Beiden mir aber am ich eine Bocata, ein (leider sehr) kleines Brötchen mit Tomate und geschmolzenem Käse gefüllt, köstlich! „Was bin ich euch schuldig?“ - „Nichts, du bist eingeladen. Buen camino!“
Da hatte ich sie wieder, meine Glücksbegegnung des Tages.
Die zweite Hälfte der Strecke verläuft auf einer Via Verde, einer ehemaligen Bahnlinie. Etwas langweilig, aber dafür bleiben dem Wanderer viele Höhenunterschiede erspart, denn die Trasse führt im Zweifelsfall durch den Berg statt darüber.
Ich hatte ja viel Zeit zum Nachdenken an diesem Tag, denn ich würde mein Ziel drei Tage früher erreichen als geplant. Ich könnte also noch Tausenderlei unternehmen: ein Stück auf den Camino francés einbiegen (och, nö), Burgos und vielleicht auch noch León als Touristin erforschen oder auf dem Camino Vasco del Interior Bilbao entgegen gehen.
Aber wie ich so vor mich hin trottete, merkte ich, dass ich im Grunde schon dabei war, mich zu verabschieden und eigentlich keinen Bedarf an weiteren Erlebnissen mehr hatte.
Und plötzlich, und ganz ohne ätzende Industriegebiete, war nach neun Stunden Burgos erreicht. Hatte gar nicht so weh getan!
Auch für meine Unlust auf Pilgerhorden (die städtische Herberge bietet 160 Betten in riesigen Sälen) fand sich eine Lösung, eine entzückende, ebenfalls öffentliche Mini-Herberge über einer Kapelle.
Reservierung nicht möglich, aber es gab tatsächlich noch freie Plätze (wahrscheinlich gerade WEIL man nicht reservieren kann – darauf lassen sich viele sicherheitsbewusste Pilger mittlerweile nur ungern ein).
Der zauberhafte Hospitalero José Rafael wohnt im Stockwerk darüber und erklärte mir alles so ausgiebig, dass die Zeit für das Wichtigste knapp wurde: den Besuch der Kathedrale, wahrscheinlich einer der bedeutendsten gotischen Sakralbauten des Landes. In jeder neuen Seitenkapelle bleibt einem der Mund offen stehen vor Staunen, und im Grunde hätte ich einen halben Tag statt einer dreiviertel Stunde für einen groben Überblick gebraucht.
Falls ich noch Energie hätte, sollte ich zur Burg hoch gehen, hatte José Rafael empfohlen, um einen besonders schönen Blick auf die Stadt zu genießen. An einem Sommerabend ist das auch sicher ein herrliches Plätzchen, bei windigen fünf Grad war’s das eher weniger.
Zum Glück fiel mir dann die tägliche Pilgermesse in der Kathedrale ein - will sagen, in einer bescheidenen Seitenkapelle, die etwa viermal so groß ist wie die Bünsdorfer Kirche - und fünfhundert Mal so golden. Und: geheizt! Vielleicht auch deswegen war die Messe gut besucht; für viele Pilger auf dem Weg nach Santiago ist Burgos ja ein wichtiges Etappenziel (oder auch Start- bzw. Endpunkt), und die Herbergen bieten den Service, auch ohne Erkrankung länger als eine Nacht bleiben zu dürfen. Verlockend...
Nach einem späten Supermarktbesuch machte ich es mir mit allerlei Leckereien in meinem oberen Stockbett bequem (aah, Beine hoch!), wie mehrere Andere auch. Und als der nette José Rafael um 22 Uhr zum Licht Ausmachen kam (andere Caminos, strengere Sitten), raunte er mir zu, er habe extra die Heizung weiter aufgedreht!
Dienstag, 23. April
Die Würfel sind gefallen: Abreise. Ich habe fertig!
Eine Fahrkarte nach Bilbao war schnell am Busbahnhof gekauft, ein leidlich günstiges Flugticket fand sich im Internet. Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich meinen Rückflug am Freitag einfach verfallen ließ, aber gegen drei weitere Tage Unterkunft und Verpflegung gerechnet, ging es sich fast schon wieder aus. Und auf so viel Frieren war ich einfach nicht eingestellt. Als ich die Herberge morgens um acht verlassen musste, zeigte das Thermometer gerade mal ein Grad an. Wie nur zweieinhalb Stunden bis zur Abfahrt des Busses überbrücken?!
In einem Anfall von besonderer Frömmigkeit kam mir in den Sinn, dass die Kathedrale ja geöffnet sein könnte - noch längst nicht für Touristen, aber bestimmt würde es Messen im Stundentakt geben.
Und siehe, ich erwischte sogar eine besonders Festliche: mit gesungenen Laudes und zehn (!) Zelebranten. Keine Ahnung, ob das so üblich ist, aber ich psalmodierte aus vollem Herzen und voller Kehle mit. Julia hat mich daran erinnert, wie wichtig es sei, sich langsam und bewusst zu verabschieden. Auf diese Weise passte es gut.
Auf die ALSA, die spanische Fernbusgesellschaft, ist Verlass: pünktlich um 10.30 h rollten wir aus der Bahnhofshalle heraus.
Ach, wie war die Landschaft das herrlich! Hätte ich vielleicht doch hier entlang wandern sollen?
Aber während wir mein geliebtes Baskenland durchquerten, verdunkelte sich der Himmel, und aus tief hängenden Wolken fing es an zu regnen. Alles richtig gemacht. Wie es aussieht, hatte ich das perfekte Wetter-Fenster für meine Pilgerreise erwischt!
Er hat sie sich angetan, ist mit letzter Kraft stöhnend ans Ziel gehumpelt und liegt nun schnarchend zwei Betten neben mir in der knuffigen Herberge von Quintanarraya. Ich muss aber zugeben, dass ich, warum immer, diesen Tag auch ganz schön anstrengend fand, deshalb erst morgen mehr.
Unser Pensionspreis beinhaltete ein - für spanische Verhältnisse - gar nicht mal so übles Frühstück, das wir netterweise schon um acht serviert bekamen, aber ich begnügte mich trotzdem mit Orangensaft und grünem Tee und sackte nur zwei winzige eingeschweißte Teilchen für später ein.
Heute Abend in Quintanarraya würden wir uns etwas richtig Leckeres bereiten, hatten Ross und ich beschlossen. Leider bietet die dortige Herberge zwar eine brauchbare Küche, aber es gibt im Ort kein Lebensmittelgeschäft. Also kauften wir in San Esteban die halbe Frutería leer und ergänzten weitere Zutaten im Supermarkt. Merke: außen am Rucksack baumelnde Plastiktüten wirken sich ungünstig auf den Erhaltungszustand von darin befindlichen Tomaten, Bananen und Champignons aus!
Da Ross' und mein Lauftempo und -rhythmus doch recht unterschiedlich sind, gerade hangaufwärts, durfte ich voraus laufen und hatte so genug Zeit, mir eine von zwei romanischen Kirchen in Rejas de San Esteban zu Gemüte zu führen, San Ginés. So schöne Kapitelle! An der Tür hing tatsächlich mal eine Telefonnummer für Besichtigungen, aber ich wurde abgeschmettert, weil gerade „keine Saison“ sei.
In dieser Gegend wird wieder verstärkt Wein angebaut - und nicht irgendeiner, sondern ein D.O.C.-Tropfen, „Denominación de origen controlada“: nur im Umkreis von 30 Kilometern vom Fluss Duero dürfen die Winzer dieses Prädikat verwenden!
Heute hatte ich entschieden, nicht dem Pilgerweg zu folgen (der uns 16 oder 17 km Asphalt beschert hätte), sondern eine fußfreundlichere und auch nicht längere Alternative von Komoot zu nutzen.
Kein besonders warmer Tag, aber für einen alles andere als gesunden 70jährigen war die stetig aufwärts führende Piste schweißtreibend genug. So lud ich ihn oben in die „Pine Bar“ in den Schatten einer Fichte ein und servierte Kefir (neben Wasser mein diesjähriges Camino-Getränk Nr. 1, ihm bis dato unbekannt) und die wirklich schlechten Minicroissants und Madalenas vom Frühstückstisch.
Bei unserer nächsten Pause bekam ich Musikvideos vorgespielt - auch mal nett -, danach ging ich wieder meiner Wege. So angenehm es ist, unterwegs Gesellschaft und viel zu Lachen zu haben - schon fallen die kleinen Gespräche mit den Einheimischen weg, und das Fotografieren wird, zackzack, unterwegs erledigt.
Eine durchaus ansprechende Wegführung, allerdings ständig auf und ab. Ein wolkenloser Himmel ist etwas Wunderbares, aber so ein klitzekleines bisschen Schatten wäre auf dieser Ruta manchmal ganz willkommen.
Endlich in Sicht: Quintanarraya, das Ziel dieser 32 Kilometer-Etappe. Die Herberge sei sehr einfach, war älteren Berichten zu entnehmen, aber der Kontakt zur Hospitalera hatte schon mal hervorragend geklappt. Und dann fand ich bei meiner Ankunft um halb sieben dies vor: ein rundum gemütliches Quartier in einem ehemaligen Schulhaus, mit Heizung, heißer Dusche, einem Kühlschrank, Kochplatte und sogar dem dazugehörigen Geschirr! Nach der üblichen Körper- und Kleidungspflege setzte ich mich noch zum Lesen in die Sonne vors Haus - und wurde sogleich von jedem passierenden Hundebesitzer und Spaziergänger angesprochen. Soo viele Pilger verirren sich offenbar nicht hierher.
Eine Stunde später erschien Ross („Meine Füße bringen mich um!“), lieferte das zermatschte Obst und Gemüse ab und bekam dann kurz darauf einen wahren Pracht-Salatteller von mir vorgesetzt.
Bier, Wasser und Limonade zum Selbstkostenpreis hatten bereits im Kühlschrank auf uns gewartet. So dürfte es öfter sein!
Bloß auf das nächtliche Stöhn- und Schnarchkonzert hätte ich gern verzichtet...
Samstag, 20. April
Ein paar Kilometer von Quintanarraya entfernt liegt eine römische Ausgrabungsstätte, Clunia Sulpicia, die ich gern besichtigen wollte, morgens zwar erst ab zehn Uhr, aber immerhin überhaupt mal geöffnet!
Als ich ankam, wartete bereits eine lange Autoschlange vor dem Eingang: ein Wochenendausflug bestens gelaunter Oldtimer-Fans. Leider nicht in der dazu passenden Kleidung, aber die trügen sie nur bei offiziellen Anlässen, erzählten sie mir.
Die Colonia Clunia Sulpicia ist längst nicht so gut erhalten wie die berühmteren Römer-Siedlungen; man braucht also allerhand Fantasie, um sich das Leben vor 2000 Jahren vorzustellen. Aber hier müssen damals mehrere tausend Menschen gelebt haben! Ein Film mit guten Rekonstruktionen hilft bei der Visualisierung, und zumindest das Amphitheater und die Thermen sind noch leidlich gut erhalten. Die wunderbaren Mosaiken hat man mittlerweile wieder abgedeckt, sehr schade!
Ich hätte mir den langen Umweg vielleicht gespart, wenn ich meinen nächsten Gastgeber eher kontaktiert hätte: Der Mönch in Santo Domingo de Silos sagte nämlich nun am Telefon, man müsse vor 18.30 Uhr eintreffen, um in der Herberge Einlass zu finden. Schreck, lass nach! Für Ross, der morgens um neun aufgebrochen war, gut machbar. Ich verließ Clunia um halb zwölf und sollte nun 29 km in unter sieben Stunden schaffen!
Und das notgedrungen wieder auf einem teilweise selbstgebastelten Weg, was nicht ganz ohne Schwierigkeiten gelang - aber am Ende wieder viel Abwechslung bot.
Unterwegs gibt es nur einen größeren Ort, Huerta de Rey - also zumindest so groß, dass er über Bäcker, Fleischer und einen Tante Emma-Laden verfügt. Am Samstag um 13.30 Uhr war das Angebot allerdings nur noch überschaubar, und das Städtchen reizte mich auch wenig, aber ich setzte mich mit einem Eis an einen Bachlauf, um trotz der gebotenen Eile ein wenig zu trödeln.
Im Haus nebenan zeterte eine Seniorin einem jüngeren Paar hinterher und gab ein paar erstaunlich unflätige Worte von sich, als die Beiden abfuhren. Ich grinste zu ihr hoch, und sie rief runter: „Na, ist doch wahr! Das macht mir schlechte Laune („mala leche“). Ich will nicht in irgendein blödes Restaurant gehen! Warte, ich komme runter.“
Dann erschien sie neben mir und kündigte an, mich ein wenig unterhalten zu wollen, einverstanden? Ein Spiegelei würde ihr völlig reichen, und überhaupt!
Zum Glück kam sie dann bald auf ihre Blumenpracht zu sprechen, die entlang des Bachs in Beeten und Töpfen wächst. Jede einzelne Pflanze von ihr gehegt und gepflegt, jawohl, mit dem Wasser aus dem Bach, das mache sie glücklich, und mehr brauche sie nicht im Leben! Ich ließ mir ihre Schätze einzeln vorstellen, bat dann noch um Wasser aus dem Hahn für mich und zog weiter, raus aus dem Ort.
Wir befinden uns mittlerweile in der Provinz Burgos, was sich an einer deutlich anderen Architektur zeigt: keine Lehmziegel mehr, dafür Stein und auch viel Fachwerk.
Was sich allerdings nicht zeigt, sind gelbe Pfeile oder gar Pilgermuscheln. Dafür wird der grandiose Kämpfer, El Cid Campeador, allerorten gefeiert.
Nach anderthalb Stunden Landstraße geht es in einen duftenden Pinienwald mit vielen einladenden Rastplätzen. Und da heute Samstag ist, machen auch viele Familien von dieser Einladung Gebrauch.
Über einen steilen Pfad erreicht man einen Sattel, und plötzlich tut sich wieder ein Gebirgespanorama auf.
Spannend anzusehen, aber ich bedauerte es nicht, dass mein Weg mich wieder abwärts führte, nach Santo Domingo de Silos.
Am Ende rannte ich fast den gerölligen Pfad herab, aber um fünf Minuten vor halb sechs läutete ich an der Klosterpforte – geschafft! Und wer kam mir da zusammen mit dem Bruder Hospitalero entgegen? Ross. Wenn das kein Timing war-!
Die Herberge sei bescheiden, war ich am Telefon gewarnt worden, aber wenn dieses moderne, blitzblanke Quartier bescheiden ist, dann frage ich mich, wie die Mönche wohnen!
Nachttischleuchten mit eigenen Steckdosen, eine Waschmaschine und sogar einen Trockner gibt es hier.
Wir haben uns natürlich alle Fetzen vom Leib gerissen, um ein paar Stunden später saubere, wohlriechende Kleidung zu genießen.
Der Ort ist brechend voll mit Touristen und entsprechend auch Lokalen und Souvenirgeschäften.
Für die Besichtigung des berühmten Klosters war ich selbstverständlich zu spät angekommen, aber ich konnte immerhin an der Vesper in der klassizistischen, völlig kargen Klosterkirche teilnehmen: 15 oder 16 Brüder, ein Organist, ein Priester und zwei Messdiener (die aber zu nichts dienten), eine Dreiviertelstunde gregorianische Gesänge und Gebete. Dem Tagesplan nach zu schließen, leben sie hier wirklich noch nach der benediktinischen Regel.
Am Sonntag darf ab zwölf besichtigt werden, seufz. Mal sehen, ob sie für Peregrinos eine Ausnahme machen...
Sonntag, 21. April
Wieder einmal Glück gehabt: Ich konnte einen der Benediktiner, der gerade mit geraffter Kutte einen Wagen aus dem Klosterfuhrpark abspritzte (am Tag des Herrn!?
Alles Andere in Silos war geschlossen, aber ich nahm mir trotzdem Zeit für einen kurzen Rundgang, kaufte dann beim Kiosk noch ein vielversprechendes Körnerbrot als Proviant und freute mich auf einen entspannten Wandertag.
Die Felsformationen lassen es schon ahnen: hier reiht sich ein Steinbruch an den anderen. Und noch etwas ahnt man: dass unlängst gewaltige Waldbrände gewütet haben müssen. Ein schauriger Anblick!
In Retuerta wollte ich eigentlich nur rasch Wasser nachtanken, aber auf den Straßen war einiges los, und die alten Gemäuer haben es mir auch wieder angetan.
Nach 16 Kilometer lockt ein weiterer Touristenmagnet: Covarrubias, malerisch am Rio Arlanza gelegen, in dem man sich sommers bestimmt wunderbar erfrischen kann.
Hier traf ich wieder - und zum letzten Mal - mit Ross zusammen, der morgens schon vorausgegangen war, dann aber beschlossen hatte, sich nicht weiter zu quälen und in Covarrubias einen Pausentag einzulegen, bevor er mit dem Bus nach Burgos reisen und dann nur noch Tourist sein würde. Das tat mir Leid für ihn, war aber garantiert die richtige Entscheidung.
Zum Abschied schleppte ich ihn noch mit in die Kollegiatskirche samt Museum San Cosme y Damián. Sehr prächtig, sehr golden.
Mit optimaler Signalisation nahm ich am Spätnachmittag die letzten neun Kilometer in Angriff, vergnügt, aber auch ein bisschen unruhig, weil ich in Mecerreyes telefonisch mal wieder niemanden erreicht hatte, um mein Kommen anzukündigen.
Überraschenderweise war in der Bar aber der Teufel los, mit entsprechendem Lärmpegel - normalerweise hätte sie um diese Zeit geschlossen sein müssen. Ich liebäugelte noch kurz mit dem Hinweis, hier werde Tortilla española, auf Wunsch auch mit Schinken und Käse, verkauft, besann mich dann aber meines - ausgesprochen leckeren - Brotes und ließ mir nur einen Stempel und den Herbergsschlüssel verabfolgen.
Und was für eine Herberge schon wieder! Als sollten zum Schluss noch mal alle Register gezogen werden, aber diese städtische Einrichtung ist wohl in erster Linie für die Camino del Cid-Wanderer gedacht.
Fast schade, die ganze Pracht alleine genießen zu müssen. Ich wählte das gemütliche Dachzimmer und machte es mir in der Sonne mit meinem Abendessen bequem.
Jetzt habe ich noch einen Rest Brot und drei Salatblätter für morgen - gut, dass dann wieder Montag mit entsprechenden Ladenöffnungszeiten ist. Spätestens in Burgos, das ich am Abend erreichen werde, tut sich ja wieder ein wahres Shopping-Paradies vor mir auf.
Und die Stadt wird voller Pilger sein, denn auf dem Camino francés ist jetzt Hochsaison.
Montag, 22. April
Das Motto des Tages: marschieren gegen den eisigen Wind. 34 Kilometer lang.
Immerhin war der Tag sonnig, womit ich gar nicht mehr gerechnet hatte, und die Etappe landschaftlich auch keineswegs öde, wenn ich mal den Blick dafür erübrigen konnte.
Die Bar in Mecerreyes war morgens überraschenderweise geschlossen - wie überleben die Männer ohne ihren Cortado?! -; die nächste Bar zwölf Kilometer weiter hatte leider nur Getränke im Angebot.
Anderthalb Stunden später: wieder ein Dorf mit Bar, hurra!
Bei meinem Eintritt schreckte ich ein junges Paar auf, das hingebungsvoll hinter dem Tresen knutschte. Das nahmen die Beiden mir aber am ich eine Bocata, ein (leider sehr) kleines Brötchen mit Tomate und geschmolzenem Käse gefüllt, köstlich! „Was bin ich euch schuldig?“ - „Nichts, du bist eingeladen. Buen camino!“
Da hatte ich sie wieder, meine Glücksbegegnung des Tages.
Die zweite Hälfte der Strecke verläuft auf einer Via Verde, einer ehemaligen Bahnlinie. Etwas langweilig, aber dafür bleiben dem Wanderer viele Höhenunterschiede erspart, denn die Trasse führt im Zweifelsfall durch den Berg statt darüber.
Ich hatte ja viel Zeit zum Nachdenken an diesem Tag, denn ich würde mein Ziel drei Tage früher erreichen als geplant. Ich könnte also noch Tausenderlei unternehmen: ein Stück auf den Camino francés einbiegen (och, nö), Burgos und vielleicht auch noch León als Touristin erforschen oder auf dem Camino Vasco del Interior Bilbao entgegen gehen.
Aber wie ich so vor mich hin trottete, merkte ich, dass ich im Grunde schon dabei war, mich zu verabschieden und eigentlich keinen Bedarf an weiteren Erlebnissen mehr hatte.
Und plötzlich, und ganz ohne ätzende Industriegebiete, war nach neun Stunden Burgos erreicht. Hatte gar nicht so weh getan!
Auch für meine Unlust auf Pilgerhorden (die städtische Herberge bietet 160 Betten in riesigen Sälen) fand sich eine Lösung, eine entzückende, ebenfalls öffentliche Mini-Herberge über einer Kapelle.
Reservierung nicht möglich, aber es gab tatsächlich noch freie Plätze (wahrscheinlich gerade WEIL man nicht reservieren kann – darauf lassen sich viele sicherheitsbewusste Pilger mittlerweile nur ungern ein).
Der zauberhafte Hospitalero José Rafael wohnt im Stockwerk darüber und erklärte mir alles so ausgiebig, dass die Zeit für das Wichtigste knapp wurde: den Besuch der Kathedrale, wahrscheinlich einer der bedeutendsten gotischen Sakralbauten des Landes. In jeder neuen Seitenkapelle bleibt einem der Mund offen stehen vor Staunen, und im Grunde hätte ich einen halben Tag statt einer dreiviertel Stunde für einen groben Überblick gebraucht.
Falls ich noch Energie hätte, sollte ich zur Burg hoch gehen, hatte José Rafael empfohlen, um einen besonders schönen Blick auf die Stadt zu genießen. An einem Sommerabend ist das auch sicher ein herrliches Plätzchen, bei windigen fünf Grad war’s das eher weniger.
Zum Glück fiel mir dann die tägliche Pilgermesse in der Kathedrale ein - will sagen, in einer bescheidenen Seitenkapelle, die etwa viermal so groß ist wie die Bünsdorfer Kirche - und fünfhundert Mal so golden. Und: geheizt! Vielleicht auch deswegen war die Messe gut besucht; für viele Pilger auf dem Weg nach Santiago ist Burgos ja ein wichtiges Etappenziel (oder auch Start- bzw. Endpunkt), und die Herbergen bieten den Service, auch ohne Erkrankung länger als eine Nacht bleiben zu dürfen. Verlockend...
Nach einem späten Supermarktbesuch machte ich es mir mit allerlei Leckereien in meinem oberen Stockbett bequem (aah, Beine hoch!), wie mehrere Andere auch. Und als der nette José Rafael um 22 Uhr zum Licht Ausmachen kam (andere Caminos, strengere Sitten), raunte er mir zu, er habe extra die Heizung weiter aufgedreht!
Dienstag, 23. April
Die Würfel sind gefallen: Abreise. Ich habe fertig!
Eine Fahrkarte nach Bilbao war schnell am Busbahnhof gekauft, ein leidlich günstiges Flugticket fand sich im Internet. Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich meinen Rückflug am Freitag einfach verfallen ließ, aber gegen drei weitere Tage Unterkunft und Verpflegung gerechnet, ging es sich fast schon wieder aus. Und auf so viel Frieren war ich einfach nicht eingestellt. Als ich die Herberge morgens um acht verlassen musste, zeigte das Thermometer gerade mal ein Grad an. Wie nur zweieinhalb Stunden bis zur Abfahrt des Busses überbrücken?!
In einem Anfall von besonderer Frömmigkeit kam mir in den Sinn, dass die Kathedrale ja geöffnet sein könnte - noch längst nicht für Touristen, aber bestimmt würde es Messen im Stundentakt geben.
Und siehe, ich erwischte sogar eine besonders Festliche: mit gesungenen Laudes und zehn (!) Zelebranten. Keine Ahnung, ob das so üblich ist, aber ich psalmodierte aus vollem Herzen und voller Kehle mit. Julia hat mich daran erinnert, wie wichtig es sei, sich langsam und bewusst zu verabschieden. Auf diese Weise passte es gut.
Auf die ALSA, die spanische Fernbusgesellschaft, ist Verlass: pünktlich um 10.30 h rollten wir aus der Bahnhofshalle heraus.
Ach, wie war die Landschaft das herrlich! Hätte ich vielleicht doch hier entlang wandern sollen?
Aber während wir mein geliebtes Baskenland durchquerten, verdunkelte sich der Himmel, und aus tief hängenden Wolken fing es an zu regnen. Alles richtig gemacht. Wie es aussieht, hatte ich das perfekte Wetter-Fenster für meine Pilgerreise erwischt!
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- Pellegrina
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Danke für den schwungvollen Bericht! Woher kannst du so gut Spanisch, Geschichte und auch noch Musik?
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Zufällig genau die drei Fächer studiert! 

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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Hola Fermate,
sehr, sehr schön, deinen Bericht zu lesen und die Erinnerungen an die Ruta!
Ich habe schon bemerkt, dass du gut im Spanischen sein musstest, um so viel Kontakt zu Einheimischen zu bekommen. Beim Pilgern ist das wie Salz in der Suppe, ganz ohne fehlt was.
sehr, sehr schön, deinen Bericht zu lesen und die Erinnerungen an die Ruta!
Ich habe schon bemerkt, dass du gut im Spanischen sein musstest, um so viel Kontakt zu Einheimischen zu bekommen. Beim Pilgern ist das wie Salz in der Suppe, ganz ohne fehlt was.
BC
Franz
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- Pellegrina
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Das hat sich ja gelohnt!

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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Liebe Fermate,
das ist ja eine wundervolle Überraschung!
Ich habe Deinen Bericht gerade erst entdeckt und erst mal so ein bisschen überflogen - natürlich vor allem die Gegenden , die ich auch kennen gelernt habe... aber ich werde mir unbedingt Zeit nehmen, alles ganz genau zu lesen
Was ich jetzt schon gemerkt habe - die Überlegung, den ersten Teil, der mir ja fehlt, in den Osterferien zu gehen, wird verworfen. So kalt, brrr, das ist nix für mich
Ganz herzlichen Dank für den ausführlichen Bericht (ganz neu ist es ja für mich nicht, wir haben ja schon im Frühling am Telefon gequatscht
)
Dann wünsch ich Dir erstmal ganz viel Freude bei der Vorbereitung Deines nächsten Weges!
Liebe Grüße! Gertrudis
das ist ja eine wundervolle Überraschung!
Ich habe Deinen Bericht gerade erst entdeckt und erst mal so ein bisschen überflogen - natürlich vor allem die Gegenden , die ich auch kennen gelernt habe... aber ich werde mir unbedingt Zeit nehmen, alles ganz genau zu lesen
Was ich jetzt schon gemerkt habe - die Überlegung, den ersten Teil, der mir ja fehlt, in den Osterferien zu gehen, wird verworfen. So kalt, brrr, das ist nix für mich
Ganz herzlichen Dank für den ausführlichen Bericht (ganz neu ist es ja für mich nicht, wir haben ja schon im Frühling am Telefon gequatscht
Dann wünsch ich Dir erstmal ganz viel Freude bei der Vorbereitung Deines nächsten Weges!
Liebe Grüße! Gertrudis
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Re: Ruta de la Lana nach Covid
Danke Dir, Gertrudis,
es wird der Camino Mozárabe, und ich kann es jetzt schon kaum abwarten! Ende Februar geht es los, hoffentlich bei angenehmen Temperaturen.
Buen Camino für Deinen zweiten Teil der Lana!
es wird der Camino Mozárabe, und ich kann es jetzt schon kaum abwarten! Ende Februar geht es los, hoffentlich bei angenehmen Temperaturen.
Buen Camino für Deinen zweiten Teil der Lana!
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