Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Auf den Spuren des Franz von Assisi und auf anderen Wegen in die ewige Stadt
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Gertrudis
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Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Ganz frisch ist das jetzt schon nicht mehr, aber ich versuche, ein paar Eindrücke von unserer Wanderung auf dem Erzengel-Michael-Weg festzuhalten.
Der Weg ist ja im Buch von Angela Maria Seracchioli schön beschrieben, samt Geschichten und Wissenswertem über die Orte und Gegenden am Weg.
Wir konnten uns mithilfe von "Mapy.cz" und dem bei "Bergfex" von Reinhold Fresner erstellten Track, der dem Seracchioli-Weg sehr exakt folgt, bestens zurechtfinden. Auch die Markierung mit gelben Pfeilen und Wegweisern ist recht gut, mit Track bzw. Wegbeschreibung ist man allerdings auf der sichereren Seite. Einige Unterkünfte hatten wir vorab über booking.com gebucht (da haben wir ein paar günstige Ferienwohnungen ergattert, in denen wir selber kochen konnten), ansonsten hielten wir uns an die Unterkunftsliste von Angelas Webseite.

Dienstag, 14.5.24

Überpünktlich fährt der Öbb Nightjet in den Bahnhof Roma Termini ein, wir erwischen den nächsten Anschlusszug nach Terni, und nach einem ersten echten italienischen Kaffee in der Bahnhofshalle tuckern wir in einem kleinen, mit bunten Graffities verzierten Zirkuswagen- nein, Schienenbus durch eine vertraute Gegend: Marmore, Rieti… da drüben auf dem Hügel, da hatten wir doch das Kätzchen gefüttert, und dort oben in dem Kloster, da haben wir übernachtet, als wir vor drei Jahren hier auf dem Franziskusweg bis Poggio Bustone gepilgert sind!

Der Weg, den wir nun erkunden wollen, Angela Maria Seracchiolis „Erzengel-Michael-Weg“, ist die unmittelbare Fortsetzung dieses Cammino di San Francesco. Wir haben allerdings beschlossen, nicht gleich mit einer langen Etappe zu beginnen und lassen uns noch ein paar Stationen weiter bringen. In die Abruzzen hinein, durch Tunnels und Kehren schnauft das Bähnlein und wir ersparen uns schon mal einige Höhenmeter.
Am Bahnhof Rocca di Fondi steigen wir aus, außer dem mit drei Stockwerken vielleicht etwas überdimensionierten Bahnhofsgebäude ist keine Ansiedlung zu sehen. Wir gehen auf einem mit hohem Gras bewachsenen Pfad zur Straße, wer weiß, wann die letzten Fahrgäste an diesem Ort aus- oder zugestiegen sein mögen.

Vier Kilometer sind`s zum Dorf Rocca di Fondi, und das Dorf ist oben, auf der Spitze des Hügels. Ein hübsches Dorf. Die Häuser aus grauem Bruchstein, die meisten frisch renoviert, Blümchen davor, Rosenbüsche in üppiger Blüte, gemalte Namensschilder, Deko – nur: keine Menschen. Wir haben über Whatsapp vom Vermieter unserer Ferienwohnung einen Code für den Schlüssel bekommen, unser Domizil ist das höchste im Ort. Im Nachbarhaus sind tatsächlich Leute, die gerade ihre Geranien umtopfen – aber die eigentlichen Bewohner von Rocca di Fondi sind - Katzen. Die sind überall. An dem Platz neben der Kirche – deren Mauern zersprungen sind und für deren Renovierung nach dem Erdbeben sich kein Geld gefunden hat - haben die Katzen ein Haus ganz für sich, mit einer kleinen Tür. Sie gehen ihre Katzenwege, pflegen ihre Katzenfreundschaften und Rivalitäten, wollen nichts mit uns zu schaffen haben.
Die Ferienwohnung ähnelt einem Puppenhaus oder einem Schmugglerversteck, je nachdem. Wo die Sonne auf den Platz scheint, wärmt sie uns ein bisschen, später kommt Regen, wir frieren, bereiten unser Essen zu, das wir mitgebracht haben. Tortellini, Soße, Wein.
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Gertrudis
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Mittwoch, 15.5.24

Unser Startort liegt freilich nicht direkt am Erzengelweg, aber wir folgen heute gut markierten Wegen, meistens dem CNP - Cammino Naturale dei Parchi, und werden morgen irgendwann auf die Seracchioli-Route treffen.

Heute bewegen wir uns in fast völliger Einsamkeit, aber in paradiesischer, parkähnlicher Gegend. Die einzige Menschenbegegnung dieses Tages ereignet sich nach dem ersten herzhaften Anstieg am Rifugio Romolo de Angelis, einer offenen Hütte, die unbewirtschaftet ist, aber in recht passablem Zustand. Zwei Mountainbiker sind da nach ihrer Rast gerade wieder am Aufbrechen, und so haben wir den Tisch vor der Hütte für uns und unsere Brotzeit.
Ringsumher Hügelketten, von ferneren Gipfeln glänzen noch Schneefelder. Später wird die Landschaft sanfter, weiter, Laubwäldchen in hellem Frühlingsgrün umrahmen Bergwiesen, wir schreiten über kostbare Teppiche aus tausenden bunter Blüten, durchqueren mehrere Hochebenen und dabei mehrere Jahreszeiten an einem einzigen Tag.

Bereits heute früh fand ich eine Nachricht auf Whatsapp, auf deutsch. Alberto, bei dem wir morgen Quartier beziehen wollten, ließ fragen, ob wir auch sicher kämen, und hatte eine Deutsche als Dolmetscherin gefunden. Später wollte er wissen, ob wir auch essen wollten. Noch mehr Fragen hatte er, und so kam es, dass sich während des Gehens ein umfangreicher Dialog mit einer mir gänzlich unbekannten Veronika entspann, welche ich bei Alberto verortete, bis sich herausstellte, dass sie in Deutschland lebte und wir uns gar nicht begegnen würden.

Am Nachmittag blicken wir auf den Altopiano di Rascino hinunter, auf den zipfeligen See und die verstreuten Gehöfte. Es soll da drei „Restaurants“ geben, und mindestens eines, so verkündet es Google, sei geöffnet. Nun, im August vielleicht? Da ist dann da eine richtige Ranch, sogar mit Pferden! Jetzt keine Menschenseele, immerhin aber eine Veranda mit Tischen und Stühlen, und wir haben ja in weiser Voraussicht genügend Essen eingepackt.

Wir möchten bis zum Sonnenuntergang noch ein gutes Stück voran kommen und dann an einem schönen Platz unser kleines rotes Zelt aufbauen, und so wandern wir durch goldene Hahnenfußwiesen, schöpfen an wasserreichen Brunnen, im Tal werfen die Hügel schon Schatten, Wälder, Auen, Vogelgezwitscher, Grillengezirp. Dann erspäht der Fritz einen Hügel, ein freundlicher Weg führt da hinauf – oben ist der perfekte Schlafplatz: Aussicht, Blümchen, und Sonne am Abend und am Morgen. Das mit dem Zelt ist eine Premiere – es könnte keine bessere Bühne dafür geben und keine gelungenere Kulisse!

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Gertrudis
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Donnerstag, 16.5.24

Vogelgebrüll. Unglaublich, aber das laute Durcheinander, das die gefiederten Gesellen da draußen in der Morgendämmerung veranstalten, hat nichts mit dem wohligen, melodischen Tönen zu tun, dem wir tagsüber mit Entzücken lauschen. In der Nacht war das laute Atmen eines großen Tieres zu vernehmen gewesen, ganz nah. Dann wärmt uns die Sonne, trocknet unser Zelt, wir lassen uns Zeit. Kalter Pulvercappuccino, köstlich.

Die ersten Kilometer spazieren wir weiter das liebliche Tal entlang, Wiesen, Auen, Bächlein, dann Wald, Buchenwald. Zauberhafte Lichtungen voller Blumen. Die Vögel singen nun wieder normal.
Auf den Pass, der schließlich zu überqueren ist, geht es sehr steil hinauf und ebenso steil wieder hinab, auf schottrigem Pfad. Die Wanderstecken helfen mir beim Auf-, dem Fritz beim Abstieg, so genügt uns ein Paar. Unten, in der Nähe von Castiglione, treffen wir auf eine Teerstraße und auf einen gelben Pfeil – ab jetzt sind wir auf Kurs zum Erzengel!

Eine Gruppe von Mulis und Pferden schleppt Holzstämme aus dem Bergwald. Brav trotten die beladenen Tiere am Straßenrand entlang zu einem Holzlagerplatz, das Öffnen eines einzigen Knotens befreit sie mit Gepolter von ihrer Last. Für den weiteren Transport kommt ein Lastwagen zum Einsatz.

Wir nehmen die von Angela Maria vorgeschlagenen Abkürzungen, die zweite bringt uns gnadenlos über Schotterbrocken auf direkteste Weise ins Tal. Eines der Dörfer, auf die wir schon lange von oben hinabblicken, ist unser Ziel – aber die Teerstraße bis dahin zieht sich. Die Kirche in Villagrande mit den angepriesenen Fresken ist geschlossen, aber die Bar ist offen und freundlich, eine letzte Stärkung, bevor wir drei Kilometer weiter in Piagge unsere Unterkunft erreichen.

Bei Alberto und seiner Frau, betagten Leuten, und deren Tochter sind wir zu Gast am Familientisch. Alberto würde gerne plaudern, das spürt man, aber er traut sich nicht recht, weil er keine Fremdsprache kann. Seine Frau kann das auch nicht, aber die hat weniger Skrupel, und erzählt mir auf italienisch. Sie kommt auf die Geschichte vom Haus der Maria, das von Engeln nach Loreto gebracht wurde, ganz genau weiß sie alles darüber. Der Raum ist mit Familienfotos geschmückt und mit Bildern von Pater Pio. Die Tochter serviert das Mahl, die Vorspeise aus Melone mit Schinken, die Pasta mit Tomatensoße, die ausladenden panierten Schnitzel mit Salat. Sie wirkt in sich zurückgezogen, ernst, als habe das Schicksal ihr etwas Schweres zugemutet… Aber wir sind nur Fremde, die vorüberziehen, und können keinen Anteil nehmen…
Ein getigertes Schmusekätzchen hat schnell das Bett in unserem Zimmer erobert.

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Shabanna
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Shabanna »

Grade entdeckt, deine Berichte, Gertrudis.

Herrlich!

Bitte weitermachen :)

LG,
Andrea
No creo en casi nada que no salga del corazón.
(Fito Páez)

http://und-die-haare-im-wind.blogspot.com
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Simsim
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Simsim »

Shabanna hat geschrieben: 9. Jul 2024, 09:09 Grade entdeckt, deine Berichte, Gertrudis.

Herrlich!

Bitte weitermachen :)

LG,
Andrea
Da kann ich mich nur anschließen!! Vielen Dank für die bilderreiche Erzählung! So schön!
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FredMario
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von FredMario »

Gute Idee, in Rocca di Fondi zu starten. Vielleicht mache ich das beim nächsten Mal auch so. Danke für deinen tollen Bericht.

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Gertrudis hat geschrieben: 9. Jul 2024, 01:18 Bei Alberto und seiner Frau, betagten Leuten, und deren Tochter sind wir zu Gast am Familientisch.
Alberto ist jetzt acht Jahre älter...

Mario
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Fermate »

Ach, wie schön, dass Du wieder etwas schreibst, Gertrudis! Seit unserem Telefonat hatte ich schon immer mal hoffnungsvoll geguckt, weil Du mich, nach der Ruta de la Lana, schon wieder auf dumme Gedanken gebracht hast...
Seit ein paar Wochen lerne ich fleißig mit einer App Italienisch ("Das Kaninchen mag lieber Äpfel als Birnen und trägt eine elegante gelbe Jacke" - damit dürfte ich für fast jede Pilgersituation gerüstet sein-!), und heute habe ich für nächstes Jahr drei Monate unbezahlten Urlaub eingereicht. Italien kann kommen - oder umgekehrt!
Caminos del Norte, Primitivo, Muxia y Fisterra, Portugués mit Variante espiritual, Mozárabe; Voie de Régordane, Chemin du Piémont Pyrenéen, Route Bidassoa-Nive;
Via Regia, Via Jutlandica, Via Porta, Münchener Jakobsweg u.v.m. in Deutschland
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FredMario
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von FredMario »

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Gertrudis
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Oh...da muss ich mich wohl ranhalten...
(Musste mich nur gerade um andere Sachen kümmern)
Ja, das Kaninchen mit der gelben Jacke wird Dir ganz sicher nützlich sein, liebe Fermate :lol:
Drei Monate Urlaub - klingt verlockend! ( Ich habe gerade meine Rente beantragt. Aber da ich in meinem lottrigen Künstlerleben immer von der Hand in den Mund gelebt habe, werde ich das wohl noch die nächsten Jahre so weiter machen... immerhin, meine Schulferien sind auch schon was)
Liebe Grüße!
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FredMario
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von FredMario »

Gertrudis hat geschrieben: 8. Jul 2024, 23:28 nach Terni, und nach einem ersten echten italienischen Kaffee in der Bahnhofshalle tuckern wir in einem kleinen, mit bunten Graffities verzierten Zirkuswagen- nein, Schienenbus durch eine vertraute Gegend: Marmore, Rieti… da drüben auf dem Hügel, da hatten wir doch das Kätzchen gefüttert, und dort oben in dem Kloster, da haben wir übernachtet, als wir vor drei Jahren hier auf dem Franziskusweg bis Poggio Bustone gepilgert sind!

Der Weg, den wir nun erkunden wollen, Angela Maria Seracchiolis „Erzengel-Michael-Weg“, ist die unmittelbare Fortsetzung dieses Cammino di San Francesco. Wir haben allerdings beschlossen, nicht gleich mit einer langen Etappe zu beginnen und lassen uns noch ein paar Stationen weiter bringen. In die Abruzzen hinein, durch Tunnels und Kehren schnauft das Bähnlein und wir ersparen uns schon mal einige Höhenmeter.
Am Bahnhof Rocca di Fondi steigen wir aus, außer dem mit drei Stockwerken vielleicht etwas überdimensionierten Bahnhofsgebäude ist keine Ansiedlung zu sehen. Wir gehen auf einem mit hohem Gras bewachsenen Pfad zur Straße, wer weiß, wann die letzten Fahrgäste an diesem Ort aus- oder zugestiegen sein mögen.
Danke Gertrudis. Bin grad auf die Bahnlinie Terni - Sulmona gestoßen und hab' mich da an eure Reise erinnert.

Mario
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Gertrudis
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Mein Bericht ist ja leider eingeschlafen... aber noch nicht tot 😉 Es gibt noch Hoffnung, dass es irgendwann Muße gibt zum Weitererzählen...
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Gertrudis
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Gertrudis hat geschrieben: 23. Okt 2024, 23:50 Mein Bericht ist ja leider eingeschlafen... aber noch nicht tot 😉 Es gibt noch Hoffnung, dass es irgendwann Muße gibt zum Weitererzählen...
Tatsächlich gehts ein bisschen weiter, der Zug für die Fortsetzung des Weges ist immerhin schon gebucht :lol:

Freitag, 17.5.24

„Hier ist Francesco vorbei gelaufen. Guten Lauf“. In rustikale Holzbretter sind diese aufmunternden Worte eingeschnitzt, auf deutsch. Unser Lauf führt ein Stück neben der Autobahn entlang, die sich gestern, aus der Ferne, als ein horizontaler unnatürlicher Schnitt durch die Hügelkette präsentiert hatte. Während wir an dem Zaun entlang gehen, der unseren Feldweg von der Autobahn trennt, drängt sich eine Erinnerung auf, ein Erlebnis, das sich mir richtig ins Herz geschnitten hat: damals fuhren wir durch Ungarn, auf der Autobahn. Augusthitze, irgendwo in ewiger durstiger Ebene. Ein endloser Zaun zu beiden Seiten der Fahrbahn, ein unüberwindbares Hindernis quer durchs Land. Und dann das Reh. Es hatte sich auf die falsche Seite des Zauns verirrt. Mit hängendem Kopf schleppte es sich zwischen Fahrbahn und Zaun entlang, ohne Schatten, ohne Wasser, wie viele Stunden, wie viele Kilometer wohl? Und wir im Auto, ohne Chance zu irgendeinem hilfreichen Tun…
Unser Weg wendet sich weg von der Autobahn, wird zum Pfad in die Hügel hinein, wieder umgeben von lieblicher Natur. Jemand hat alle paar Meter neue, leuchtende gelbe Pfeile auf die Steine gemalt, und bald finden wir uns auf einem Aussichtshügel. Wolkenschiffchen, Vogelzwitschern, Sonnenschein – kann solch ein Idyll gestört werden? Es kann. Mein Freund starrt irritiert auf sein Display. „Wir sind nicht auf dem Track!“ „Ja, ich weiß, aber wir sind auf dem Weg. Da sind doch genug gelbe Pfeile“. „Aber…“ „Nun, vielleicht hat der Ersteller des Tracks einen anderen Weg genommen. Eine Abzweigung verpasst. Oder die Markierung wurde erst später gemalt, weil diese Variante schöner ist?“ „Ich möchte wissen, wo es jetzt weitergeht“ – sagt er, und geht weiter. Ich packe erst mal eine Brotzeit aus. Die Rundumsicht vom Gipfelkreuz aus ist perfekt, und vor mir im Tal liegt l`Aquila, unser heutiges Ziel. Natürlich dauert es nicht lang, bis wir wieder vereint sind, der Fritz hat auf mich gewartet. Er ist auch auf seine Kosten gekommen: er hat Schwammerlsucher getroffen, die hatten gute Beute gemacht. Wir spazieren durch bukolische Heidelandschaft, verpassen eine im Führer angepriesene Kirche.
Der Ort, der von oben zu sehen war, war doch nicht unser Tagesziel gewesen, sondern ein Vorort, Poggio de Roio, und wir müssen noch einen Hügel überwinden. Ein Kreuzweg, gesäumt von marianischen Geheimnissen, schmerzhaften und glorreichen, führt uns nach l`Aquila hinein.
Zunächst, natürlich, kurze Rast am berühmten Brunnen der „99 Cannelle“, ich zähle im Entlangschreiten an den drei Seiten der Anlage die wasserspeienden Köpfe und komme nicht auf neunundneunzig. Hm. Aber da waren noch ein paar Rohre ohne Kopf, nur so, vielleicht müsste man die mitrechnen…

Die Spuren des Erdbebens, das die Stadt 2009 zerstört hat, sind noch überall zu sehen. Ganze Straßenzüge noch immer eingerüstet, durch Eisenkonstruktionen vor dem Einstürzen gesichert. Baukräne allerorten, und auf unserem weiteren Weg werden sie geradezu zu einer Art Wahrzeichen werden, die Dörfer überragend, schon von ferne sichtbar. Aber es wurde auch sehr Großes geleistet in den inzwischen vergangenen fünfzehn Jahren. Schon überwiegt das Neue bei Weitem. Die Stadt hat sich frisch gemacht, das Alte ist wiedererstanden im strahlenden neuen Gewand.
Zunächst aber suchen wir unsere Unterkunft, die wir über Booking gebucht haben. Sie liegt in einer der renovierten Gassen, die historischen Fassaden wurden wieder hergestellt, die alten Materialien so weit wie möglich wieder verwendet, aber innen ist alles neu und modern, in den Küchenschränken unseres Domizils liegen noch die übriggebliebenen Schrauben. Einen Menschen, der uns persönlich begrüßen würde, treffen wir nicht, auch wenn wir die Besitzerin telefonisch belästigen müssen: sie hat uns einen falschen Code für den Türöffner geschickt.
Im Carrefour kaufen wir Paella aus der Tiefkühltruhe, ein paar herzhaftere Zutaten zum vorhandenen italienischen Frühstück, und eine Weinflasche… der Fritz bereitet das Abendessen vor, während mich noch die Neugierde in der Stadt herum treibt.
In der Kirche San Bernardino, auch sie im neuen Glanz, geht gerade die Messe zu Ende und Priester, Brüder und Gemeinde versammeln sich zu einer Andacht um das prächtige Renaissance-Mausoleum des Franziskanerheiligen Bernhardin von Siena, der hier am 20. Mai 1444 sein Leben beendete und dessen Fest, das sich also in drei Tagen jährt, diese ganze Woche lang gefeiert wird.
Auf dem „Heimweg“ finde ich die Straßen und Plätze mit den Cafés und Kneipen voller Leben, voll von jungen, zukunftshungrigen Menschen, und die etwas älteren drängen sich um weiße Verkaufszelte auf dem Hauptplatz, neben den auch hier noch vorhandenen Bauzäunen - da bieten heute die Weinkellereien der ganzen Region ihre Produkte zum Probieren an.

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Simsim
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Simsim »

Liebe Gertrudis,
Hast Du mal darüber nachgedacht, Deine Reiseberichte als Bücher herauszugeben?
Deine Begabung zum (Be-)Schreiben wäre es wirklich wert, finde ich :).
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Gertrudis
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Gertrudis »

Simsim hat geschrieben: 29. Dez 2024, 15:03 Liebe Gertrudis,
Hast Du mal darüber nachgedacht, Deine Reiseberichte als Bücher herauszugeben?
Deine Begabung zum (Be-)Schreiben wäre es wirklich wert, finde ich :).
Liebe Simone, das wurde ich von Freunden schon hin und wieder gefragt. Meine Antwort: ich möchte kein Buch herausgeben.
Jetzt schreibe ich hier ein bisschen, anhand der Notizen von unterwegs, damit die Erinnerungen nicht ganz verblassen. Und ich teile es hier gerne, damit Ihr es lesen könnt, wenn Ihr mögt und vielleicht auch mit diesem Weg liebäugelt. Ich lese ja auch gern die persönlichen Reiseberichte hier im Forum... aber bis ich einen Pilgerbericht als Buch kaufe... passiert selten :lol:

Und jetzt kommt unser 5.Tag:

Samstag, 18.5.24

Das Ausmaß der Zerstörung l`Aquilas durch das Erdbeben lässt sich beim Betrachten entsprechender Bilder im Internet eventuell erahnen, wie sich aber diese Katastrophe für die Bewohner angefühlt haben mag, ist wohl nicht wirklich nachvollziehbar.
Vom vorderen Teil der Basilika Santa Maria di Collemaggio scheint tatsächlich nur ein Schutthaufen inmitten von Resten der Außenmauer übrig gewesen zu sein. Heute steht sie wieder da in aller Pracht und Anmut, fast so, als wäre nichts gewesen. Auf dem weiten Vorplatz grünt der Rasen, junge Männer üben sich in kunstvollem Fahnenwerfen, für den anstehenden Festauftritt. Erstaunlich die geradezu reduktionistische Klarheit der Fassade von Santa Maria, ein mit rotweißem Kreuzchenmuster gleichmäßig überzogenes Rechteck, vertikal gegliedert durch die drei Portale und die fein ziselierten Fensterrosetten und horizontal, im Verhältnis zwei zu drei, durch einen Sims, was bei Musikern sogleich die Vorstellung eines Klangs, der Quinte, hervorruft… Klarheit und Schlichtheit prägt auch den Innenraum. Die Gestalt mit der starren Maske in dem Kasten aus Panzerglas, in der sich verbirgt, was vom Papst Celestino übrig geblieben ist, rührt mich seltsamerweise auf keiner Ebene an. Der Mensch, der er gewesen ist, dagegen schon. Ein Asket, der sein Leben in Höhlen in den Bergen verbracht hat, mit 80 Jahren wider Willen zum Papst gewählt wird, dieses Amt nach wenigen Monaten niederlegt und dafür im Gefängnis landet…Ich beschließe, zu Hause zu lesen, was Ignazio Silone darüber geschrieben hat.

Es ist Zeit, uns auf den Weg zu machen, halb eins ist es bereits, und wir wollen zu einem Dorf, welches passenderweise „Villa Sant`Angelo“ heißt. Dort habe ich eine relativ günstige Unterkunft entdeckt, die nicht auf Angelas Liste steht und die unmittelbar am Beginn der morgigen „anstrengenden“ Bergetappe liegt. Also aus der Stadt hinaus und auf der Autostraße frisch voran…Wir sind noch nicht allzu weit gekommen, da hält vor uns ein Auto. Die Fahrerin, eine junge Frau mit schicker Brille und einem lockigen Kind auf dem Rücksitz, wartet auf uns, ohne sich um den vorbeirauschenden Verkehr zu kümmern, fragt in bestem Englisch nach unserm Wohin, freut sich, uns ein Stück fahren zu dürfen, findet in ihrem kleinen Fiat zwischen Kind, Einkäufen und Brennholz Platz für uns und unsere Rucksäcke und bringt uns ins nächste Dorf, nach Monticchio. Sie erzählt, wie viel sie selber gereist ist, sie freut sich einfach, Leute mit Rucksäcken zu treffen.

Hier gäbe es nun die Möglichkeit, durch die Hügel zu wandern, die sich zur Rechten erheben, und dort oben einige interessante Orte zu besuchen: das Franziskanerkloster Sant´Angelo d`Ocre, das Dorf Fossa mit der Kirche Santa Maria ad Cryptas und das Kloster Santo Spirito d´Ocre… doch im Internet steht überall „chiuso“, und nach Santo Spitito hoch- und wieder herunter zu laufen sind wir dann auch zu faul. Also halten wir uns an baumgesäumte Feldwege in der Ebene, zwischen dem Flüsschen Aterno und der Eisenbahnlinie, begleitet von Nachtigallengesang und Mohnblumen. Die Hügelkette bietet mit den nun nicht besuchten verlassenen Orten eine eindrucksvolle Kulisse. Die Lust auf einen Kaffee verführt uns zu Abstechern, erst zu einer – natürlich geschlossenen – Bahnhofsbar mitten in der Pampa und dann zu einem Restaurant in das Dorf Sant`Eusanio Forconese, aber dort wird gerade ganz privat in feinen Stöffchen gefeiert, da ist kein Platz für zwei dahergelaufene Pilger.

Den ersehnten Kaffee finden wir dann schließlich doch noch, in der Bar I Barili am Ortsrand von Villa Sant´Angelo. Das ganz Besondere an dieser Bar ist jedoch Lara, die sich nicht nur auf reizende Weise um ihre Gäste, jetzt also uns, kümmert, sondern auch um ein paar afrikanische Jungs, die augenscheinlich bei ihr eine Art kleines Zuhause und eine Mamma mit einem großen Herzen gefunden haben.
Unsere Unterkunft liegt in Tussillo, am oberen Ende des Ortes. Auch hier gibt es viel Neugebautes und Renoviertes, aber an einigen Stellen, beispielsweise an den zerrissenen, durch Stützen zusammengehaltenen Mauern der Kirche sieht man noch, wie das Erdbeben gewütet hat.
Im B&B Tussillo bekommen wir ein Zimmer mit Bergblick, dazu können wir einen gemütlichen Salon mit Küchenzeile nutzen. Gekocht wird aber heute nicht. Anderthalb Kilometer entfernt gibt es ein Restaurant, das samstags geöffnet hat. Die nette Zimmerwirtin reserviert uns dort gleich einen Tisch. Ein Glück, dass heute Pfingstsamstag ist! Alle Gäste sind heute festlich herausgeputzt, und wir speisen feine Sachen!

(B&B Tussillo, Tel. +39 3479132422. Zimmer mit Frühstück für uns zwei 65 Euro)
Die Kirche Sta Maria ad Kryptas in Fossa wäre auf alle Fälle einen Besuch wert, wenn sie offen ist. Hier ein Link dazu:
https://comune.fossa.aq.it/luoghi/24133 ... ccess_ways

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Pellegrina
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Re: Auf dem Erzengel-Michael-Weg im Mai 2024

Beitrag von Pellegrina »

Toll und so anschaulich geschrieben, liebe Gertrudis! Hoffentlich erzählst du bald weiter!
Eben habe ich die Geschichte von Papst Celestino auf Wikipedia nachgelesen - wieder was gelernt.
Liebe Grüße von Pellegrina
Haustür nach Santiago (Elsass, Via Podiensis, Camino francés)
Ökumenischer Pilgerweg, Ausoniusweg
Haustür nach Assisi und Rom (über Schweiz und Via Francigena)
Martinusweg (ab Szombathely)
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