Vom Pilgern jenseits der Wege

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chrisbee
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Re: Vom Pilgern jenseits der Wege

Beitrag von chrisbee »

@ donjohannes: Ich bin überrascht, wie gut du deine Botschaft dargestellt hast. Die Verbindung mit Handwerk, mit Steinen, mit dem Bau einer Mauer und der nötigen Langsamkeit und Fertigkeit, die man dafür braucht, und das alles in dieser großartigen Landschaft, in der dein schönes Haus liegt - das ist alles gut nachzuvollziehen.

Aufgemerkt habe ich am selben Punkt wie Matthias (im 2. Video), denn dass es dir jetzt um Trans und Gender usw. gehen würde, war mir klar. Ob ich da jetzt Feindseligkeit ausmachen könnte, möchte ich nicht beurteilen. Und ob sich das gegen eine „Minderheit“ richtet?

Meiner Kenntnis nach wird dieses Thema in vielen Milieus gehypt . Und diese Milieus sind ganz sicher nicht nur die „bunten, liebenswert verrückten Minderheiten“ wie Matthias gern betont, Das halte ich eher für einen Wunsch.

Mich persönlich verbindet mit diesem Thema eine kritische Haltung zu dem neuen „Selbstbestimmungsgesetz“ und zum anderen sehr unangenehme Erfahrungen, die ich im letzten Sommer in Folge der Differenzen, die innerhalb der Frauenrechtsbewegung zu dem Thema bestehen, gemacht habe. Kurz gesagt: die Kritik wurde von Transaktivisten plattgemacht. Ich verlinke hier mal zwecks Information einen Artikel aus der „Emma“.

https://www.emma.de/artikel/terre-des-f ... ngt-340395

Die Bedenken wegen der neuen Regelungen richten sich nicht prinzipiell gegen Transitionen, sie betreffen vor allem Fragen des Kinder- und Mädchenschutzes, der hier praktisch ausgehebelt wird. Und natürlich das Problem, wie frau sich weiterhin noch für Frauenrechte, sprich Menschenrechte und Gleichberechtigung überzeugend einsetzen kann, wenn Frausein nur noch als eine Frage der persönlichen Wahrnehmung und Entscheidung für einen Geschlechtseintrag angesehen wird.

Was die großen ideologischen Debatten zu dem Thema angeht: Da würde ich eher von „Verwertungsinteressen“ als von „Genderideologie“ sprechen, denn ich würde mich immer fragen, wer den ökonomischen Nutzen davon hat, d.h. Geschäfte damit machen kann und will. Und zum anderen die Frage, wer den symbolischen Nutzen einstreicht, der heutzutage vor allem darin besteht, als progressiv, weltoffen und was weiß ich nicht alles zu gelten - auch wenn diese spezielle Entwicklung noch so antiemanzipatorisch und zweifelhaft ist, weil es speziell hier ja auch um Zugriffe auf die menschliche Natur geht. Immerhin sind die Probleme, die aus bisherigen Ressourcennutzungen und überhaupt dem Umgang mit Natur entstanden sind, schon riesig genug.

Zu alldem ist noch längst nicht alles gesagt.

Gruß chrisbee
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Anne Ruschmann
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Registriert: 9. Aug 2019, 21:08

Re: Vom Pilgern jenseits der Wege

Beitrag von Anne Ruschmann »

Hallo donjohannes,
ich habe mir nun drei deiner Folgen „Ein Jahr im Leben eines Teilzeiteinsiedlers“ angeschaut. Die Filme sind absolut ansprechend.
Dein Leben in der Einsiedelei ist auf eine gewisse Weise faszinierend.
Die Arbeit, Leistung, Mühe und deine Persönlichkeit haben etwas wunderbares geschaffen und ich finde es sehr schön, dass du dich öffnest und Interessierten mit den Filmen die Möglichkeit gibst, daran – zumindest bis zu einem gewissen Maß – teilnehmen zu dürfen.
Die kurze Einblendung in deine Vorträge ist klasse. Ich mag deine Art von Humor, deine Stimme, die sehr angenehm ist und man sieht in den kurzen Sequenzen, wie sehr deine Vorträge die Zuhörer fesseln.
Die Schlussbetrachtungen deiner Filme sind interessant und deiner Persönlichkeit entsprechend verständlicherweise auf einem solch hohen Niveau, dass es ggfls. nicht jeden dazu bringt, sich deine Worte nochmal anzuhören.
Einige deiner Betrachtungen gefallen mir sehr gut, andere sehe ich anders und dann gibt es noch welche die ich eher kritisch sehe, was aber vollkommen normal sein dürfte.
Womit ich allerdings überhaupt nicht klar komme und was mich, ehrlich gesagt, sehr betroffen gemacht hat, ist deine Aussage in der Schlussbetrachtung des Films „Von der Rückkehr des Winters und der Stürme“.
Dort sagst du:

„Kontemplation bezeichnet im Christentum einen inhaltsfreien Geist, der auf das Bewusstsein Gottes als lebendige Realität ausgerichtet ist .
Du sprichst von klarer Ordnung im Hüben und Drüben und dass die Rolle der Kirche umfassend war im Leben der Menschen.
So sehr, das selbst Dekadenz, Skandale, Sünde im Klerus und in den Kirchenbänken,….die es immer gegeben hat…., sie nicht grundsätzlich in Frage stellen konnten.

Die Art, wie du „…die es immer gegeben hat…“ aussprichst, die Art der Betonung bzw. nicht Betonung, so ganz nebenbei, lapidar, ein klitzekleiner Nebensatz. Das klingt für mich ganz schlimm. So, als sei dir das lästig, nach dem Motto: „hat‘s immer gegeben, ist halt so“.
Ich weiß leider gar nicht wie ich es anders formulieren soll.
Für mich kommt es so rüber, dass das, was "es halt immer gegeben hat", was so unendliches Leid mit sich brachte und bringt, von dir als "gegeben" akzeptiert bzw. hingenommen wird.
Das ist so schade. Denn deine Filme, deine Darstellungen, deine Erzählungen, die sind ja eigentlich wirklich gut. Und du hast sinngemäß im Zusammenhang mit deinen Vorträgen gesagt, dass du dich freust damit auch Leute zu erreichen, die du sonst wohl eher nicht erreichen würdest.
Aber ob du sie so wirklich erreichst? Ich meine wirklich, ganz tief?
Persönlichkeiten wie du werden absolut gebraucht und sind bestimmt auch in der Lage "Kirche" gut rüberzubringen, aber eine gewisse Öffnung mit Akzeptanz und Toleranz wäre dabei sicherlich hilfreich.

BC
Anne
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donjohannes
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Registriert: 21. Jul 2019, 21:40

Re: Vom Pilgern jenseits der Wege

Beitrag von donjohannes »

Danke Anne, für dein Feedback.

Das Zitat "Kontemplation bezeichnet im Christentum einen inhaltsfreien Geist, der auf das Bewusstsein Gottes als lebendige Realität ausgerichtet ist " erkenne ich nicht wieder.
Den Teilsatz schon, den du auf eine bestimmte Weise ins Ohr bekommst: hier mögest du mir glauben, dass er ganz bestimmt nicht lapidar gemeint ist (und für mich auch bei nochmaligem Nachhören nicht so klingt. Die Phrase davor "und in den Kirchenbänken" hat tatsächlich einen sonderbaren Tonfall - warum kann ich nicht sagen, vielleicht weil ich den Einschub beim Einsprechen fast überlesen habe... aber das "die es immer gegeben hat", das darauf folgt, ist weder lapidar gesprochen noch so gemeint). Ich verstehe, dass Stimme nicht immer alles transportiert und noch weniger, wenn man das Gesicht nicht sieht. Aber wenn du Fragen zu meiner Sicht auf die Dinge hast, dann ist diese an anderer Stelle sehr klar ausgedrückt. In meinem Buch zur Via Alpina Sacra, gibt es einen Eintrag zu der Wut über die Täter und die Ohnmacht auch eines Priesters in dieser Misere (wo ich wütend den Pass zum Großen St. Bernhard hochstapfe) - und nur die abgemilderte Variante meines Schimpfens hat es dabei durch das Korrektorat geschafft.

Ich zitier dir die Passage, nur damit du verstehst, wie es mir bei diesen Dingen geht - und du vielleicht etwas anderes in die Stimme hineinlegst, als dort in Wahrheit zu finden ist:
Via Alpina Sacra, Tag 84, Seite 310-11
Ich brach wieder auf, besuchte unten in der Ebene, etwas außerhalb des Orts, noch die Kapelle des Martyriums und marschierte dann in der schwülen Luft Richtung Martigny. Fit fühlte ich mich immer noch nicht. Der Magen war flau. Ich pausierte auf der Bank neben einem Sportplatz. Und hier holte mich dann ein Stück jener Welt ein, die auf so einer Reise schnell in die Ferne rückt. Ich las die Nachrichten. Neue Missbrauchsskandale in den USA. Homosexuelle Seilschaften in Seminaren, ein perverser Kardinal und geile Günstlinge, die sich gegenseitig im System befördern. Widerlich. Was für ein Sumpf! Keine Kinder diesmal unter den Opfern. Aber Lichtblicke sahen fürwahr anders aus. Zwei Klicks. Und die nächste Nachricht erschütterte mich bis auf den Kern. Ich las den Werdegang des Opfers. Er überschnitt sich für ein Semester mit dem meinen. Ich hatte keine Erinnerung, der Frau begegnet zu sein, aber es war gut möglich, dass wir in derselben Kirchenbank gesessen, im selben Flur gelacht, in der selben Bibliothek gebüffelt und im selben Vorlesungssaal unsere Klausuren geschrieben hatten. Man leidet mit jedem Opfer. Man empfindet Wut gegenüber jedem Täter. Aber in den folgenden Absätzen riss es mir die Eingeweide heraus. Mit Gefasel von „mystischer Ehe“ und „geistiger Mutterschaft“ ebnete der junge Priester den Weg von Freundschaft hin zu Machtmissbrauch und Nötigung bis zur sakrilegischen Entweihung der heiligen Messe. Und als es endlich ein Ende nahm und die Frau aus der Gehirnwäsche und der Scham einen Weg heraus fand, um den Fall zu melden, bot die Diözese eine Therapie an, doch der Priester blieb im Dienst! Das geschah nicht in den 80er-Jahren! Das geschah vor kurzem, nach all den Missbrauchsfällen, die ein Umdenken bei den Verantwortlichen schon lange hätte erzeugen müssen! Erst durch die Anstrengung eines Zivilprozesses wurde der Perverse mit Kollar aus dem Verkehr gezogen. Unfassbar!
Die junge Frau, die sich selbst nicht völlig aus der Verantwortung nimmt, hilft heute Opfern von Missbrauch und ist als Missionarin im kirchlichen Dienst in der Dritten Welt. Sie hat in all dem den Glauben nicht verloren. Aber ich gestehe, dass ich selbst lange nach der Fassung rang. Ich war innerlich so aufgewühlt und angewidert, kämpfte mit den Tränen und fluchte die folgenden Stunden auf dem Weg in den Süden. Ich liebe die Kirche. Ihr Haupt ist Christus. Doch ihr geschundener, stinkender Leib, dessen Glieder manchmal wie hässliche Geschwüre sind, ist kaum zu ertragen. Immer noch schnürte es mir die Kehle zu und bitter war der Geschmack. Der Himmel, unter dem ich lief, wurde zu einem Spiegel meiner Seele. Blitz, Donner und Regen holten mich ein.
Nach einem langen Tag blickte ich von der Bettkante hoch zum Totenkopf im obersten Regal mir gegenüber. Eine barocke Erinnerung an die Sterblichkeit – so deute ich den Schädel in der mit Lärchenholz getäfelten Mönchszelle, die mir in Abwesenheit des Bewohners als Quartier zugewiesen worden war. Denn das Hospiz von Europas höchstem Kloster am Großen St. Bernhard (2469 m) war wie so oft mit Gästen voll. Pilger auf dem Weg nach Rom und Ruhesuchende geben sich seit fast 1000 Jahren hier die Klinke einer Tür in die Hand, die kein Schloss besitzt – noch nicht einmal ein Schlüsselloch. Die Freundlichkeit, mit der auch ich aufgenommen wurde, war Balsam für die Seele. Einen guten Teil des Weges von Martigny hier hoch war ich immer noch mit Wut im Bauch marschiert über Priester und Prälaten, die ihre Macht missbrauchen und sich an den ihnen Anvertrauten versündigen. Hat denn das Gerede vom „lieben Gott“ diese Herren vergessen lassen, dass der Allmächtige auch Richter ist?; dass der „nette Bruder Jesus“ Weh-Rufe über jene ausgestoßen hat, die sich als Wölfe erweisen? Von Mühlsteinen um den Hals hat der Heiland gesprochen, und dass es besser für die Übeltäter wäre, damit im Meer versenkt zu werden, als das, was ihnen am Jüngsten Tag noch blühe. So viel Leid. So viel Schuld. Vergebung für die Reumütigen – nicht für die Vertuscher und Täter, die sich weigern in Sack und Asche zu gehen!
Mit diesen Gedanken war ich – auch heute im Gewitterregen – die letzten Meter bis zum Pass gestapft. Die liebenswürdigen Chorherren, die geduldig mein „italienisches“ Französisch ertrugen, konnten zwar all die Übel nicht ungeschehen machen, aber sie zeigten mir im rechten Moment das andere, menschliche Gesicht der Kirche. In meinem Zorn auf den einsamen Pfaden schien ich beinahe vergessen zu haben, dass der große Teil der Priester – bei aller Menschlichkeit, die an uns allen haftet – nichts anderes tut, als sich redlich um die Botschaft Jesu zu bemühen. War nicht das Haus, in dem ich Aufnahme gefunden hatte, selbst ein lebendiger Beweis dafür?
Österreich -Santiago 1998
Liechtenstein - Jerusalem und zurück 2013-14 (http://www.4kmh.com/neo)
Triest - Cannes (Via Alpina Sacra) 2018 ( http://www.4kmh.com/vas )
Irland - Italien (Via Columbani) 2022
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Anne Ruschmann
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Re: Vom Pilgern jenseits der Wege

Beitrag von Anne Ruschmann »

Guten Abend donjohannes,
und lieben Dank für deine ausführliche Antwort die sich gut liest und mir zeigt, dass ich anscheinend dein gesprochenes Wort missinterpretiert habe.
Dafür möchte ich ich mich bei dir in aller Form und aufrichtig entschuldigen.

Mit lieben Grüßen
Anne
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Simsim
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Re: Vom Pilgern jenseits der Wege

Beitrag von Simsim »

Anne, ich bin, ganz genau wie Du, auch an der Stelle hängengeblieben, war enttäuscht und traurig und dachte "na gut, leider auch wieder so ein Kirchenmann, der neben allem Guten was er tut, einen mehr als blinden Fleck hat".

Danke für Deine Reaktion, die ihm die Möglichkeit gab, zu reagieren. Ich selbst konnte es nicht ansprechen, zu tief geht meine eigene Wunde, meine Geschichte mit diesem Thema. Ich traute einfach keinem Kleriker mehr über den Weg.

Hier aber scheint mir doch einer der leider sehr seltenen,
integeren Gottsucher mit der Kirche unterwegs zu sein. Das tat gut zu lesen! Danke!
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Anne Ruschmann
Beiträge: 78
Registriert: 9. Aug 2019, 21:08

Re: Vom Pilgern jenseits der Wege

Beitrag von Anne Ruschmann »

Simsim hat geschrieben: 5. Feb 2024, 20:27 Anne, ich bin, ganz genau wie Du, auch an der Stelle hängengeblieben, war enttäuscht und traurig und dachte "na gut, leider auch wieder so ein Kirchenmann, der neben allem Guten was er tut, einen mehr als blinden Fleck hat".

Aufgrund der Antwort von donjohannes hoffe ich so sehr, dass er - wenn erforderlich - eben nicht "blind" sein wird.
Simsim hat geschrieben: 5. Feb 2024, 20:27 Danke für Deine Reaktion, die ihm die Möglichkeit gab, zu reagieren. Ich selbst konnte es nicht ansprechen, zu tief geht meine eigene Wunde, meine Geschichte mit diesem Thema. Ich traute einfach keinem Kleriker mehr über den Weg.
Simone, bitte fühl' dich einfach nur ganz, ganz lieb gedrückt.
Simsim hat geschrieben: 5. Feb 2024, 20:27 Hier aber scheint mir doch einer der leider sehr seltenen,
integeren Gottsucher mit der Kirche unterwegs zu sein. Das tat gut zu lesen! Danke!
Ja, die Hoffnung habe ich auch. Auch von mir ein Danke an @donjojannes.
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