Camino de despedida
Verfasst: 17. Apr 2024, 23:37
Vorab:
Dieser Bericht ist lang, nicht schön und nicht lustig. Es geht um Suizid und Trauer. Wer damit gerade nicht gut umgehen kann sollte (heute) eventuell lieber nicht weiterlesen.
——
12. Mai 2023, morgens um 7.40 Uhr:
„Wie machst du es eigentlich, dass du so viel Zeit hast den Weg zu gehen?“
Da ist sie.
Das erste mal ist sie da. Zwar nicht die explizite Frage, warum ich den Weg gehe, aber die Frage, wie ich es organisiert bekommen habe einen ganzen Monat freizubekommen, um den Camino zu gehen. Und in diesem Fall ist die Antwort dieselbe, egal wie man die Frage formuliert.
Bisher hatte ich Glück und niemand hat mich gefragt, warum ich den Weg gehe. Kein Wunder, kommt davor doch immer die Frage, ob es der erste Camino ist. Und nach der Antwort, dass es bereits mein Zehnter ist stellt sich die Frage nach „warum“ wohl niemandem mehr.
Doch jetzt ist sie da, diese Frage. Harmlos gestellt im Sonnenaufgang, während uns der kalte Wind des frühen Morgens um die Wangen weht, begleitet sie uns ein paar Meter. Links und rechts von mir gehen meine Begleiter nichtsahnend weiter, im Gleichschritt, genau so wie vor der Frage.
Und nur ich weiß, dass sich gleich (zumindest aus meiner Sicht) vieles verändern wird.
Ich habe es in den letzten Tagen genossen allein zu trauern und in Gesellschaft noch „inkognito“ zu sein. Eine Pilgerin unter vielen, der man nicht ansieht, dass der leichte Rucksack auf dem Rücken gerade mehr wiegt als der fast aller anderen.
Aber ich wusste auch, dass reden mir hilft.
Also habe ich die Frage beantwortet und aus einem unbeschwerten Start in den Tag wurde ein kummervoller Tränenmarsch. Meine Schleusen öffnen sich noch sehr schnell, das habe ich gemerkt, als ich mich vor zwei Tagen einer Pilgerin, die ich nur für einen Abend sah, öffnete. Ich habe vor lauter weinen kaum erklären können was los ist.
Am 18. April 2023 ist meine Welt zusammengebrochen. Frisch verliebt, noch in den ersten, hormonüberfüllten und perfekt wirkenden Monaten der Beziehung hat mein Partner eine Entscheidung gegen das Leben getroffen. Und mich damit komplett aus meinem Leben gehebelt.
Nach den ersten Tagen der Trauer, der Wut, der Verzweiflung und der Fassungslosigkeit, der Apathie, der Tränen, des Leids, dem Zweifeln und der Hoffnung, dass es dort im Wald einfach einfach eine Verwechslung war wusste ich, dass es für mich nur eine Sache gibt, die mich wieder ins Leben bringen kann: Der Camino.
Die Erkenntnis und die tiefe Gewissheit, dass ich (so schnell) herausgefunden habe, was mir helfen kann bereitet mir heute noch eine wohlige Gänsehaut (ich meine, wie gut ist es bitte, wenn man genau weiß, was einem hilft? Das ist echt ein Privileg!)
Nun hatte ich ein Problem: Ich war gerade einmal drei Wochen im neuen Job und konnte doch nicht einfach zur Chefin stiefeln und um einen freien Monat bitten?
Daniel war Pilger und hatte im März Flüge gebucht, um von Burgos nach Santiago zu pilgern. Ich hatte im Jahr davor auf dem Portugues beschlossen, dass mein nächster Camino wieder der Frances werden soll und hatte lose geplant im Herbst ab Leon zu laufen.
Ich hatte Sorge, als zu meiner Leitung ging und ihr sagte, dass ich zwar weiß was ich brauche, aber nicht weiß, ob wir es umsetzen können.
Ich brauche einen Monat frei, um den Weg zu gehen, den Daniel so gern gehen wollte und den er jetzt nicht mehr gehen kann.
Um das alles zu verarbeiten.
Intensiv und in Vollzeit, ohne den Alltag um mich herum.
Um den Trauerprozess von mehreren Monaten in einen Monat zu stecken.
Um klarzukommen.
Um Abschied zu nehmen.
Um auf dem Camino zu sein.
In Santiago.
In Finisterre.
Den Monat freizubekommen ging dann zum Glück leichter als gedacht. Ich reduzierte meine Arbeitszeit für zwei Monate von 100% auf 50% und arbeitete einen davon gar nicht und einen davon in Vollzeit.
Ich buchte Flüge und fuhr zur Beerdigung.
Nach der Beisetzung verabschiedete ich mich zeitig nach dem Beisammensein und fuhr direkt 6 Stunden zum Flughafen und flog am nächsten Morgen nach Spanien und war somit nur einen Tag nach der Beerdigung in Burgos, um meinen (und seinen) Camino zu gehen.
——
Ich habe immer wieder überlegt, ob ich davon hier erzählen soll oder nicht. Habe überlegt, ob es eine Relevanz hat, ob jemandem helfen könnte. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die nach einem Verlust überlegen, ob der Jakobsweg etwas für sie sein könnte, recherchieren und dann landet hier vielleicht jemand, der sich genau diese Frage stellt: Kann der Camino dabei helfen?
Und dann lohnt es sich auf jeden Fall davon zu berichten, denke und hoffe ich.
Mit auf den Camino habe ich ein Tagebuch und ein Selbsthilfebuch/ einen Ratgeber mitgenommen. Zudem habe ich kurz vor der Beerdigung einen Stein aus dem Garten seiner Schwester mitgenommen. Fürs Cruz de Ferro. Doch der Stein ist dort nie angekommen.
Und ich hatte - jederzeit griffbereit - ein Foto von ihm in der Hüftgurttasche meines Rucksacks. Das zusammen war mein „Trauerwerkzeug“ für den Camino.
Von der Reise und meinem Prozess auf dem Weg erzähle ich in den nächsten Tagen mehr.
Das hier soll für heute reichen.
Denn heute ist Daniels erster Todestag und ich möchte jetzt eine Kerze anzünden und innehalten.
Dieser Bericht ist lang, nicht schön und nicht lustig. Es geht um Suizid und Trauer. Wer damit gerade nicht gut umgehen kann sollte (heute) eventuell lieber nicht weiterlesen.
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12. Mai 2023, morgens um 7.40 Uhr:
„Wie machst du es eigentlich, dass du so viel Zeit hast den Weg zu gehen?“
Da ist sie.
Das erste mal ist sie da. Zwar nicht die explizite Frage, warum ich den Weg gehe, aber die Frage, wie ich es organisiert bekommen habe einen ganzen Monat freizubekommen, um den Camino zu gehen. Und in diesem Fall ist die Antwort dieselbe, egal wie man die Frage formuliert.
Bisher hatte ich Glück und niemand hat mich gefragt, warum ich den Weg gehe. Kein Wunder, kommt davor doch immer die Frage, ob es der erste Camino ist. Und nach der Antwort, dass es bereits mein Zehnter ist stellt sich die Frage nach „warum“ wohl niemandem mehr.
Doch jetzt ist sie da, diese Frage. Harmlos gestellt im Sonnenaufgang, während uns der kalte Wind des frühen Morgens um die Wangen weht, begleitet sie uns ein paar Meter. Links und rechts von mir gehen meine Begleiter nichtsahnend weiter, im Gleichschritt, genau so wie vor der Frage.
Und nur ich weiß, dass sich gleich (zumindest aus meiner Sicht) vieles verändern wird.
Ich habe es in den letzten Tagen genossen allein zu trauern und in Gesellschaft noch „inkognito“ zu sein. Eine Pilgerin unter vielen, der man nicht ansieht, dass der leichte Rucksack auf dem Rücken gerade mehr wiegt als der fast aller anderen.
Aber ich wusste auch, dass reden mir hilft.
Also habe ich die Frage beantwortet und aus einem unbeschwerten Start in den Tag wurde ein kummervoller Tränenmarsch. Meine Schleusen öffnen sich noch sehr schnell, das habe ich gemerkt, als ich mich vor zwei Tagen einer Pilgerin, die ich nur für einen Abend sah, öffnete. Ich habe vor lauter weinen kaum erklären können was los ist.
Am 18. April 2023 ist meine Welt zusammengebrochen. Frisch verliebt, noch in den ersten, hormonüberfüllten und perfekt wirkenden Monaten der Beziehung hat mein Partner eine Entscheidung gegen das Leben getroffen. Und mich damit komplett aus meinem Leben gehebelt.
Nach den ersten Tagen der Trauer, der Wut, der Verzweiflung und der Fassungslosigkeit, der Apathie, der Tränen, des Leids, dem Zweifeln und der Hoffnung, dass es dort im Wald einfach einfach eine Verwechslung war wusste ich, dass es für mich nur eine Sache gibt, die mich wieder ins Leben bringen kann: Der Camino.
Die Erkenntnis und die tiefe Gewissheit, dass ich (so schnell) herausgefunden habe, was mir helfen kann bereitet mir heute noch eine wohlige Gänsehaut (ich meine, wie gut ist es bitte, wenn man genau weiß, was einem hilft? Das ist echt ein Privileg!)
Nun hatte ich ein Problem: Ich war gerade einmal drei Wochen im neuen Job und konnte doch nicht einfach zur Chefin stiefeln und um einen freien Monat bitten?
Daniel war Pilger und hatte im März Flüge gebucht, um von Burgos nach Santiago zu pilgern. Ich hatte im Jahr davor auf dem Portugues beschlossen, dass mein nächster Camino wieder der Frances werden soll und hatte lose geplant im Herbst ab Leon zu laufen.
Ich hatte Sorge, als zu meiner Leitung ging und ihr sagte, dass ich zwar weiß was ich brauche, aber nicht weiß, ob wir es umsetzen können.
Ich brauche einen Monat frei, um den Weg zu gehen, den Daniel so gern gehen wollte und den er jetzt nicht mehr gehen kann.
Um das alles zu verarbeiten.
Intensiv und in Vollzeit, ohne den Alltag um mich herum.
Um den Trauerprozess von mehreren Monaten in einen Monat zu stecken.
Um klarzukommen.
Um Abschied zu nehmen.
Um auf dem Camino zu sein.
In Santiago.
In Finisterre.
Den Monat freizubekommen ging dann zum Glück leichter als gedacht. Ich reduzierte meine Arbeitszeit für zwei Monate von 100% auf 50% und arbeitete einen davon gar nicht und einen davon in Vollzeit.
Ich buchte Flüge und fuhr zur Beerdigung.
Nach der Beisetzung verabschiedete ich mich zeitig nach dem Beisammensein und fuhr direkt 6 Stunden zum Flughafen und flog am nächsten Morgen nach Spanien und war somit nur einen Tag nach der Beerdigung in Burgos, um meinen (und seinen) Camino zu gehen.
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Ich habe immer wieder überlegt, ob ich davon hier erzählen soll oder nicht. Habe überlegt, ob es eine Relevanz hat, ob jemandem helfen könnte. Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die nach einem Verlust überlegen, ob der Jakobsweg etwas für sie sein könnte, recherchieren und dann landet hier vielleicht jemand, der sich genau diese Frage stellt: Kann der Camino dabei helfen?
Und dann lohnt es sich auf jeden Fall davon zu berichten, denke und hoffe ich.
Mit auf den Camino habe ich ein Tagebuch und ein Selbsthilfebuch/ einen Ratgeber mitgenommen. Zudem habe ich kurz vor der Beerdigung einen Stein aus dem Garten seiner Schwester mitgenommen. Fürs Cruz de Ferro. Doch der Stein ist dort nie angekommen.
Und ich hatte - jederzeit griffbereit - ein Foto von ihm in der Hüftgurttasche meines Rucksacks. Das zusammen war mein „Trauerwerkzeug“ für den Camino.
Von der Reise und meinem Prozess auf dem Weg erzähle ich in den nächsten Tagen mehr.
Das hier soll für heute reichen.
Denn heute ist Daniels erster Todestag und ich möchte jetzt eine Kerze anzünden und innehalten.